Verbot und Übertretung in Mythos, Religion und Literatur
Hubert Speidel
In: Brigitte Boothe (Hrsg.):
Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Anatomie des Wunsches
- 162-181. rüffer & rub Sachbuchverlag Zürich 2013
Einleitung
Verbote gehören zu jeder Kultur. Sie sind das Negativ, gewissermaßen das Rauchzeichen der verbotenen Wünsche. Ohne Wünsche braucht es keine Verbote. Was verboten wird, ist teilweise kulturell invariant: die Liebe zum falschen Objekt, der Hass mit den falschen Handlungen, die Inbesitznahme am falschen Gegenstand.
Verbote haben immer etwas mit anderen zu tun, deren Anforderungen, Idealen und Gesetzen. Sie sind ein kollektiver Verletzungsschutz oder geben vor, das zu sein.
Sanktionierte Wünsche können aus ihrem Verbotscharakter entlassen werden, wenn Partner, Gruppen, Gesellschaften, Staaten aus gemeinsamem Interesse einen Vertrag über die Zulässigkeit oder Erwünschtheit der anderweitig verbotenen Wünsche schließen, beispielsweise im Liebesspiel, als schwarze Messen, Karneval, als Tötung im Krieg. Verboten können auch Wünsche sein, die gegen Achtung durch andere und die Selbstachtung verstoßen.
Die Verbotsinstanzen können staatliche und andere gesellschaftliche, formelle oder informelle Gesetzgeber sein, oder aber die innere Instanz des Überichs bzw. des Ich-Ideals. Freuds Verbotsmodell ist die Bewältigung des ödipalen Konfliktes durch Verdrängung als Reifungsleistung.
Weil aber die innere Verbotsinstanz die Vertreterin sozialer Normen ist, unterliegen diese Verbote der Qualität der verbietenden Instanz, die auch kriminell, d. h. sozialschädigend und deshalb verbotswürdig sein kann. Unter solchen Bedingungen kann die verbotswirksame Verdrängung z. B. einer frühen Sexualisierung Platz machen.
Nicht nur unter den Umständen einer defekten Überich-Bildung unterliegen die Verbotskriterien den sozialen Bedingungen und dem geschichtlichen Wandel, von der Außen- zur Innensteuerung, von der religiösen Bindung zur Säkularisierung, von der Bindung zur Emanzipation. Deshalb verändern sich die Inhalte der Wunschverbote, ohne dass sie notwendig abnehmen. Die Vorstellung der modernen, emanzipierten abendländischen Gesellschaft, sie habe sich aus der religiösen „Unmündigkeit“ gelöst, und sie sei deshalb eine freie, verbotsärmere Gesellschaft, ist illusionär und nur insofern wahr, als auf die aufgehobenen Verbote geblickt wird.
Norbert Elias (1976) hat die Entwicklung der Kultur als Resultat zunehmender Innensteuerung, zur Binnenkontrolle der Triebe, verstanden und sich dabei auf Freud bezogen, der die Jahrhunderte zwischen dem Ödipus des Sophokles und Shakespeares Hamlet als einen Weg vom Vatermord zur neurotischen (Mord-)Hemmung beschrieben hat, also von dem erfüllten Tötungswunsch zu dem durch eine neurotische Hemmung verhinderten, unbewußten, verbotenen Wunsch (Freud, 1900; v. Matt 2001). Es ist die Entwicklung vom manifesten zum durch Verdrängung unsichtbaren Wunsch und weiterhin von der Moral und deren religiösem Fundament zur Verrechtlichung.
Freud hatte ursprünglich die individuelle Reifung und Kulturfähigkeit durch Verdrängung und um den Preis neurotischer Symptome beschrieben. Später übertrug er sein Modell des Ödipuskomplexes auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sein erster gesellschaftlicher, anthropologischer Entwurf ist „Totem und Tabu“ (Freud 1912) mit dem Vatermord durch die Urhorde als Ursprung der Kultur, analog zur Überwindung des Ödipuskomplexes als Bedingung der Kulturfähigkeit des Menschen.
Wie Hamlet den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber Ödipus markiert, so ist der Ödipuskomplex der zivilisatorische Fortschritt gegenüber „Totem und Tabu“. Beide Male ist der verbotene Wunsch, sei es als reale Tabuübertretung oder als Konfliktlösung und Reifung durch Verdrängung, der Ursprung der Kultur, im einen Fall derjenige des Individuums, im anderen Falle der Gesellschaft.
Beide Mythen sind aber die Nachfolger des Urmythos von Adam und Eva. Die Bibel gibt dem verbotenen Wunsch eine zentrale Bedeutung. Evas Wunsch vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Paradies, begründet damit aber die Kultur, um den Preis der Erbsünde durch Adams Verfallenheit, die Erlösungsbedürftigkeit zur Folge hat. Das menschliche Urpaar hat allerdings, wenn wir das Wünschen genauer betrachten, eine Arbeitsteilung im Hinblick auf den verbotenen Wunsch vollzogen. Eva hat den Wunsch, der von der Schlange induziert ist, und Adam vollzieht die Handlung.
Boothe sowie Boothe & Stojkovic (in diesem Band) haben zu bedenken gegeben, dass Wunsch und Intentionalität gesondert zu betrachten sind, z. B. weil es Wünsche gibt, die zwar Trost geben, aber nicht in Handlungen verwandelt werden. Dies wird oft ineins gesehen, nicht nur im Märchen sondern wegen der allgegenwärtigen Wunscherfüllungshoffnung. Sie verweisen darauf, dass auch in der Psychoanalyse die Abgrenzung von wollen und beabsichtigen vernachlässigt wird. Absicht ist ihnen zufolge antizipierend, also auf die Zukunft ausgerichtet, der Wunsch dagegen knüpft sich an Vergangenes und ist gemäß Kant ein „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“ (zit. n. Boothe & Stojkovic). Dem ist nicht zu widersprechen, zumal der Wunsch als Trostmittel und auch im weiteren eine unentbehrliche Rolle zur Lebensbewältigung spielt. Wünsche neigen allerdings dazu, sich in Absichten und Handlungen zu übersetzen, deren unentbehrliche Initialphantasie sie sind. Diese sind dann die Manifestationsoberflächen von Wünschen.
Weil Wünsche Phantasieprodukte sind, ist das Überich das erstinstanzliche Subjekt des Verbotes. Auch für Handlungen kann das gelten, hier allerdings eher als präventives Substitut normativer, von außen kontrollierter Vorgänge. Eva hat lediglich einen von der Schlange induzierten Wunsch; erst Adams Handlung, von Evas Wunsch geleitet, setzt Gottes Verbot und Strafe in Kraft, wegen der eigenmächtigen Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott zu werden. Es ist der Beginn einer drohenden Katastrophe, die sich die Menschen selbst einbrocken, von der Zerstörung der von Gott dem Menschen zugedachten Rolle des guten Hirten über alles Lebendige, über den „ersten Brudermord bis zur totalen Verderbtheit der Menschheit“. Erst Noahs Brandopfer bewegt Gott, mit ihm und seinen Nachkommen einen Bund zu schließen, obwohl „alles Trachten des Menschen böse von Jugend an“ ist (Wilckens 2007).
Verbotene Wünsche und ihre Folgen stehen also am Anfang unseres kulturellen, biblischen Mythos, auch wenn sich durch den Opfertod Jesu Christi etwas Grundsätzliches geändert hat: im Sühnetod Christi als radikale Stellvertretung, mit dem Gottes Gnade seinen Zorn überwindet, mit der „Kraft endzeitlich-gütiger Sühnung von Sünden“ (Wilckens 2007).
Die zweite Quelle unserer Kultur mit einer anderen Verbotsstruktur entwickelte sich aus der Überwindung der hellenischen Götterherrschaft.
Die Götter Griechenlands und das Wünschen
In der griechischen Antike verkörperten die Götter die Wunschseite des Menschen, Vorläufer späterer absolutistischer Herrschaftsstrukturen. Der „Don-Juanismus“ des Zeus ist paradigmatisch. Die Erfahrungen von Alkmene, Danaё und Leda mit ihm waren und sind populär, nicht zuletzt wegen des Wunschneides, den diese Abenteuer des Zeus verursachen. Trotz ihrer Privilegien neidisch und deswegen zu fürchten sind die Götter allerdings, denen die Menschenwünsche nicht in die Quere kommen dürfen. Die künstlerische Konkurrenz mit Apollon kostete Marsyas Haut und Leben. Er war das Opfer eines Fluches der Athene, die sich über ihr häßliches Spiegelbild beim Flöteblasen geschämt hatte. Eine Frau aus Lybien, die Athene mit ihrer Webkunst herausforderte, wurde von ihr in eine Spinne verwandelt. Den unglücklichen Voyeur Aktaion, der Artemis im Bade nackt sah, ließ sie in einen Hirsch verwandeln, dessen eigene Hundemeute ihn zerriß (Ranke-Graves 1963). Grenzüberschreitungen in die Sphäre der Götter waren gefährlich. Ob sich die Götter in die Wunschwelt der einfachen Leute einmischten, ist mit Ausnahme von Philemon und Baucis nicht überliefert, aber Helden wie Achill, dessen Zorn den Trojanischen Krieg auslöste, und Odysseus waren, Kraft hin, List her, neben ihren eigenen Talenten auf die Unterstützung der Götter angewiesen, die deretwegen auch untereinander in Gegensatz gerieten. Nicht Konkordanz oder Diskordanz von Menschenwünschen gegenüber Moralgesetzen, sondern Übereinstimmung vs. Dissens mit den Götterwünschen bestimmen in der griechischen Mythologie die Menschenschicksale. Darüber konnten die Götter den Menschen in ihren – gemeinsamen – Wünschen recht nahe kommen. Geradezu rührend ist die zärtliche Zuwendung Athenes, die sich, als Hirte verkleidet, neben Odysseus setzt, um ihm in seinem Wunsch beizustehen, die Freier Penelopes zu vernichten (Homer, Odyssee 1955). Über Erlaubtsein und Verbot von Wünschen und Handlungen jedenfalls bestimmten die Götter. Ihr Dissens wurde über die Sterblichen ausgetragen.
Die Unübersichtlichkeit der Götterwünsche war schließlich wohl der Hauptgrund für die Entwicklung der Philosophie, Mathematik und Ästhetik in dem labilen, instanzenarmen Athen und dem multilokulären Hellas (Meier 1993; Heuß 1986). Damit bahnte sich die Unabhängigkeit von deren Launen und Verboten an.
Theorie und Praxis der athenischen Gesellschaft
Griechische Religion ist, anders als in den Universalreligionen, nicht auf generelle Gebote und Verbote und nicht auf Glaubensbekenntnisse ausgerichtet, sondern auf lokale Götterkulte. Die Philosophie beschäftigt sich mit den Elementen (Heraklit), dem Denken (Parmenides), dem Nichtwissen und der Dialektik (Sokrates), den Ideen (Plato); in der Moralphilosophie des Aristoteles (Nikomachische Ethik 1986) bestimmen die Tätigkeit (Energia) und die Tüchtigkeit (Arete) die Glückseligkeit oder Eudemonie, das gute Leben. Die Wesensbestimmung des Menschen ist das Zoon logon echon und das Zoon polititicon. Die Kardinaltugenden – Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit – sind nicht wie seit dem 16. Jahrhundert moralisch konnotiert, sondern halten als Habitus (Exis), abgetrennt von Affekten und dem Vermögen, die Mitte zwischen Zügellosigkeit und Stumpfsinn als Besonnenheit (Sofrosyne), zwischen Prahlerei und Selbstherabwürdigung als Wahrhaftigkeit. Es geht also um das Maß, die Mitte (Mesotes). Die Spannung zwischen Gut und Böse gab es in der griechischen Religion nicht, nur vor der Hybris war zu warnen. Diesen Frevel bestrafte die Nemesis. Verboten waren die Extreme.
Die Knabenliebe gehörte nicht zu den verbotenen Wünschen, wie wir aus Platons Gastmahl wissen. Sie war allerdings nicht allgemeine, obschon wohlgelittene, griechische Sitte, auch nicht allgemeine Sitte der Symposien und Gymnasien, in denen die Männer der kleinen Oberschicht ihre Tage zubrachten und die Knaben in die Kultur einweihten und unterrichteten. Die Knabenliebe war überdies mit der Vorstellung von Tugend verknüpft. Deshalb empfiehlt es sich, nicht Kinder als Geliebte zu wählen, weil bei ihnen noch nicht entschieden ist, ob ihnen die Qualität der Tugend zukommt, denn der Verstand wächst erst mit dem Bartwuchs, wie Pausanias im Gastmahl vertritt. Schlecht ist auch der Liebhaber, der den Leib mehr als die Seele liebt (Plato 1974). Die Besonderheit der klassischen griechischen Kultur waren deren Jugendkult, die Toleranz gegenüber Pädophilie und der Sport. Es ist die Kultur einer Müßiggängerelite (Gigon 1986; Brockhaus 1969).
Wir haben gelernt, daß Plato annahm, es habe ursprünglich drei Geschlechter gegeben, neben den uns geläufigen noch ein mann-weibliches, in dem alles verdoppelt vorkam, und das durch Zeus auseinandergeschnitten werden mußte. Zeus mußte ihm auch die Genitalien nach vorn rücken und Apollon mußte den Kopf drehen. Plato läßt hier aber den Aristophanes sprechen, den berühmtem Komödiendichter und Spötter, der an anderer Stelle auch die weibische Schönheit des Gastgebers Agathon verspottet hatte. Es ist also eine Satire auf die gleichgeschlechtliche Liebe, denn die Zerschnittenen lieben nur ihresgleichen (Plato 1974). Diese verbotsarme Elite, deren literarische Zeugnisse uns überkommen sind, hat unsere Kultur mitgeprägt. Sie bildete aber nicht die ganze damalige Wirklichkeit ab, und unter den Heloten und Periöken herrschten gewiß andere, verbotsreichere Sitten. Es gab Kriege, und es herrschten zeitweise Diktatoren, z. B. die 30 Oligarchen (Gigon 1986).
Gebote und Verbote in den Universalreligionen
In den monotheistischen Religionen gibt es, anders als in der griechischen Antike, einen dezidierten Gebots-Verbotskatalog. Im Alten Testament regelt der Dekalog das Verhältnis zu Gott, zu Ehe und Familie sowie den Umgang mit der konkreten Gesellschaft (Eltern, Nachbarn). Aus den Geboten, die mit Modifikationen auch für Katholiken und Protestanten gelten, wird erkennbar, welche verbotenen Wünsche zu bedenken sind: Auflehnung, mangelnde Fürsorge, sexuelle (Ehebruch) und materielle (Diebstahl) Begehrlichkeit, Neid und Aggression (Mordlust).
Was passiert, wenn gegen Gottes Gebot verstoßen und gesündigt wird, lesen wir im Alten Testament: Sodom und Gomorrha werden vernichtet, lediglich Loth, der Gottgefällige und seine Familie dürfen sich retten, aber als Loths Frau entgegen Gottes Gebot zurückblickt, erstarrt sie zur Salzsäule.
Die Sünde, als Verstoß gegen das Sittengesetz oder das Gebot einer Gottheit war schon in vorchristlicher Zeit ein Rechtsbegriff. In den Universalreligionen ist sie eine existenzielle Unheilsituation, die nur durch göttliches Eingreifen aufgehoben werden kann, im Buddhismus durch Erleuchtung, im Hinduismus durch Erkenntnis oder durch gnädige Erlösung durch die Gottheiten Vishnu oder Shiva. In der Bibel ist es die Abkehr von Gott (Todsünde) und die Vergötzung des Geschöpflichen. Weil aber Gott das Heil des Menschen ist, führt die Sünde zum Verlust des Heils und damit zur Gottesferne. Nach katholischer Lehre werden durch die Taufe alle Sünden getilgt, nicht aber die böse Neigung (Konkubiszenz). Soweit eine erneute Tatsünde erfolgt und es sich bei dieser um eine Todsünde handelt, erstirbt das in der Taufe geschenkte göttliche Leben (Wikipedia 2013).
Die sieben Todsünden (Hauptlaster, Wurzelsünden, Hauptsünden), von dem Mönch Evagrius Ponticus im 4. Jahrhundert n. Chr. entwickelt und von Papst Gregor dem Großen um 595 kodifiziert und in eine Reihenfolge gebracht, sind Superbia (Eitelkeit, Stolz, Übermut), Acedia (Faulheit, Feigheit, Ignoranz, Trägheit des Herzens), Avaritia (Geiz, Habgier), Gula (Völlerei, Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Selbstsucht), Invidia (Neid, Eifersucht, Mißgunst), Luxuria (Wollust, Ausschweifung, Genußsucht, Begehren), Ira (Zorn, Wut, Rachsucht) (Lahan 2013; Wikipedia 2013).
Es sind verbotene Wünsche, weil sie die lebenswichtige Gemeinschaft gefährden, die durch die Autorität Gottes bewahrt wird. Es ist eine Psychopathologie des Wunsches, denn die Wünsche, die verboten werden müssen – narzißtische, sexuelle, orale, aggressive, possessive – gelten als Ausdruck schlechter Charaktereigenschaften, weil sie dem Gemeinschaftsinteresse widersprechen. Der religiösen Gesetzlichkeit gemäß kann dem Sog der verbotenen Wünsche nur mit einer transzendenten Autorität standgehalten werden. Gottes Strenge entspricht der befürchteten Gefahr der schlechten Charaktereigenschaften. „[…] Alle Menschen gehören mir […] Jeder der sündigt soll sterben“ (Hesekiel 18/4). Jedenfalls ist dem Sünder das ewige Leben in Gottes Reich verschlossen. Die Hölle war dem Volke bildhafte Warnung vor den gemeinschaftsfeindlichen Eigenschaften und Handlungen. Der Teufel, Gegenspieler Gottes und also eine große Macht, ist die Verkörperung der verbotenen Wünsche. Er wird aber, um keine Versuchung zu sein, als abschreckende Gestalt und Herrscher einer Unterwelt dargestellt, in der Schrecken herrscht (das Höllenfeuer). Dadurch werden die verbotenen Wünsche, die er verkörpert, nicht nur unkenntlich gemacht, sondern in ihr Gegenteil verkehrt. Das wird in den prächtigen Bildern der Versuchung des Hl. Antonius, z. B. in Hans von Kölns Darstellung vom Altar der Antonius-Brüderschaft des Lübecker St. Annen-Museums, auf Martin Schongauers Kupferstich aus dem Berliner Kupferstichkabinett und dem skurrilen Bild des Hieronymus Bosch aus dem Museu Nacional de Arte Antiga in Lissabon deutlich. Was könnte die Versuchung sein? Nackte Jungfrauen vermutlich. Sie dürfen aber nicht gezeigt werden, weil damit die Versuchung im Betrachter entstünde, der vielleicht gar nicht verstünde, warum Antonius der Versuchung, wenn sie sich doch anbietet, nicht nachgibt. Der Heilige muß aber solcher Versuchung widerstehen, und so darf weder er auf den Bildern noch der Betrachter die Versuchung unverstellt erleben; vielmehr wird das versuchende Subjekt in Gestalt der fürchterlichsten Nachtmahrgestalten vorgeführt, die für niemanden eine Versuchung darstellen. Das Verbot erscheint verdoppelt: der Gegenstand wird vertauscht und die Versuchung durch ihr Gegenteil bebildert. Die Versuchung wird zwar behauptet, aber vollkommen verleugnet. Die Künstler beugen sich damit zwar dem pädagogischen Auftrag, verraten ihn aber gleichwohl durch die Pracht der Darstellung. Die allerdings ist eine große Versuchung. Es ist die Kunst des Verhüllens und Enthüllens auf unterschiedlichen Ebenen, die dem moralischen Verbot und der ästhetischen Versuchung gleichzeitig Raum gibt und genügt. Der Künstler bleibt unbemerkt der Komplize des Verbotenen. Denn es gilt nicht nur: wo Verbot ist, ist Verbotenes, sondern auch: wo Verbot ist, ist Verstoß.
Dantes Schilderung seines Weges durch den Wald („una selva oscura“) am Gründonnerstag 1300, „nel mezzo di nostra vita“, eine Lebensbilanz, in der er den geraden Weg verloren hat „la diritta via era smarrita“, ähnelt mit den furchtbaren Tieren, denen er begegnet, den Darstellungen der Versuchung des Hl. Antonius. Er durchwandert nun unter der väterlich-schützenden Führung Vergils die je neun Kreise des Inferno, des Purgatorio und, nun von Beatrice geleitet, des Paradiso, als den Varianten der verbotenen Wünsche, ihrer Folgen und des Endens der Wünsche, der Bedingung für das Erlangen des Paradieses, wie ihn seine mütterliche Führerin im 21. Gesang lehrt: „S’io ridessi, tu ti faresti quale fu Semelè quando di cener fessi.“ Seine Augen waren auf ihr Antlitz gerichtet gewesen und seine Sinne mit ihnen, abgelöst von allen anderen Gedanken. Aber „ quella non ridea“. Statt der kreatürlichen ist es die geläuterte Liebe: „l’amor che move il sole e l’altre stelle.“
Bis dahin hat Dante Folgen verbotener Wünsche schaudernd betrachtet. Am Rande des Inferno findet er die von ihm offenbar Verachteten, die Langweiler, die Überflüssigen. Jenseits des Acheron beginnen die eigentlichen Höllenkreise. Im ersten Kreis findet er die von Christus nicht erlösten Weisen und Helden des Altertums, im zweiten die von der Liebe Betörten, von Kleopatra bis Tristan. Im dritten Höllenkreis stehen die Gefräßigen nur in Regen und Kot, gequält von Cerberus. Im vierten Kreis quälen sich Geizige und Verschwender gegenseitig. Im fünften Kreis leben die mit der großen Wut im stinkenden Stygischen Sumpf. Der Übergang vom fünften zum sechsten Kreis, der unteren Hölle, kennzeichnet den Übergang von den durch Schwäche zu denen durch Bosheit Sündigen, den Ketzern, unter ihnen Kaiser Friedrich II, im siebten Kreis die Tyrannen, Mörder, Räuber, Selbstmörder und Wucherer. Im achten Kreis gelangen Dante und Vergil, getragen von dem Fabeltier Geryon in den Malebolge, den Schurkenzwinger mit einer bunten Mischung nackter Sünder, die von gehörnten Dämonen vorangepeitscht werden. Kuppler, Jason, der den Kolchern das Goldene Vlies raubte, Schmeichler, Betrüger, Wahrsagerinnen, schwarze Teufel und andere, Heuchler, Schwindler und Lügner, Kirchenräuber. Auch Odysseus und Diomedes werden hier gemartert, weil sie den göttlichen Zorn erregt hatten, wegen der List mit dem Pferd.
Die bisher schon fürchterlichen Qualen, die den Sündern vor allem in der unteren Hölle zugemutet werden, mit stinkenden Gewässern, Blut, Kot, verbrannten Fußsohlen etc., wird in dem neunten Kreis noch übertroffen. Hier kommt auch Mohammed vor. Er wird beschrieben „als der eine dort, der vom Kinn an aufgeschlitzt war, bis da hinunter wo man furzt. Zwischen den Beinen hingen ihm die Gedärme, die Eingeweide waren sichtbar und das häßliche Behältnis, in dem zu Kot wird, was man sich einverleibt. Während ich ihn noch anstarrte – so Dante –, sah er mich, riß sich mit der Hand die Brust auf: „Jetzt schau, wie ich mich zerfetze.“ „Or vedi com’io mi dilacco!“ „Schau, wie entstellt Mohammed ist! Vor mir läuft heute Ali (Ibn Ali Talite war der Vetter und Schwiegersohn Mohammeds und Nachfolger des Propheten), gespalten im Gesicht vom Kinn hinauf bis zum Haaransatz“, „fesso nel volto dal mento an cinfetto“. „Und alle anderen, die du hier siehst, haben als Lebende Zwietracht gesät und Spaltung betrieben, und deswegen sind sie so aufgeschlitzt.“ „ E tutti li altri che tu vedi qui, seminator di scandalo et di scisma fur vivi, e però son fessi cosi.“ Ein Teufel ist der Exekutor. „Un diavolo è qua dietro che n’accisma si crudelmende, al taglio della spada rimittendo ciascun di questa risma.“
Vorläufig sind wir im neunten Kreis der Hölle, und Mohammed bleibt nicht allein. Bertran de Born, schlechter Ratgeber des jungen Königs Heinrich II. von England, leidet hier, weil er Vater und Sohn (Richard Löwenherz) trennte. Die zyprische Königstochter findet sich hier, die, verkleidet, ihren Vater verführte und nach ihrer Flucht in eine Myrrhenstaude verwandelt wurde. Auch Putiphar, die Verleumderin Josefs schmachtet im untersten Kreis der Hölle. Menschenfresserei spielt sich zwischen zwei mit Eis Bedeckten ab, dem Grafen Ugolino und dem Erzbischof Ruggieri. Der Hungertod Ugolinos und seiner Kinder gehört für Goethe „mit zu dem Höchsten, was die Dichtkunst hervorgebracht hat: denn eben diese Enge, dieser Lakonismus, dieses Verstummen bringt uns den Thurm, den Hunger und die starre Verzweiflung vor die Seele.“ Judas Ischariot, Brutus und Cassius begegnen uns in höchster Qual. Am Höllenende, im Erdmittelpunkt, ist der dreiköpfige Luzifer, dessen Köpfe diese schlimmsten Sünder zerbrechen, von Botticelli grausig-schön gezeichnet.
Mit größter Mühe – Läuterung ist anstrengend – arbeiten sich Dante und Vergil an den Zotten Luzifers, der – eine Erfindung Dantes – sich nach seinem Höllensturz im Mittelpunkt der Erde befindet, an das Licht am Fuße des Läuterungsberges, des Purgatorio, der das Positiv zum Negativ des Höllentrichters ist, auch in Bezug auf Dante und Vergil, die im Höllentrichter Betrachter sind, im Aufstieg auf den Läuterungsberg aber Akteure der Läuterung. Sie arbeiten sich von Sims zu Sims, von Stufe zu Stufe empor, von den hoffenden Sündern über die Hierarchie der Todsünden Superbia, Invidia, Ira, Acedia, Avaritia, Gola und Luxuria, bis Dante der verklärten Beatrice begegnet und entsühnt wird. 33 Canti führen über sieben Kreise.
Die „Commedia“, seit 1555 „Divina Commedia“, gehört sowohl der christlichen wie der antiken Welt an. Sie ist eine Läuterungsgeschichte vom düsteren Wald der Versuchungen und der Gefährdungen, der Krise in der Lebensmitte über den warnenden Anblick der Unrettbaren, die ihren Wünschen zum Opfer gefallen sind, zu dem Büßertum für alle Todsünden im Anstieg auf den Läuterungsberg, der zur Befreiung von den Sünden und zu der von unseligen Wünschen befreiten Seligkeit des Paradieses führt.
Dante ist ein Vorläufer von Goethes Faust, auch in der Schlußapotheose. Hinter der Läuterung verbirgt sich auch die Kehrseite des Negativs der Läuterung mit der Kritik an den politischen Verhältnissen und der Abrechnung mit seinen Feinden, zu denen und deren Qualen er nicht gehören muß. Vergil, so lesen wir am Schluß des Inferno, muß Dante davor schützen, daß der sich an den Qualen der Unrettbaren weidet. Es ist ein Hinweis auf die Metaebene des Sadismus in der Erfindung. Dante gönnt auch seinen Figuren Rache: Ugolino de la Cherdardesca, den der Erzbischof Ruggieri dei Albadini samt Söhnen in einem Turm verhungern ließ, schlägt seine Zähne in den Kopf des Priesters. Es ist eine Unterwelt grausigster Drastik, der sich Dante auf seinem Läuterungsweg stellen muß. Die Commedia ist die Darstellung eines Individuums auf seinem Weg durch Krise, Rache, Mühsal und Läuterung von unerlaubten Wünschen in einer historischen Menschenwelt, die verbotene Wünsche mit Qualen büßt, sich durch die Buße aber von den Wünschen lösen kann, als Individuum, ohne die Hilfe der Götter, auf dem Weg zu Gott unter der Leitung eines väterlichen Führers, der selbst als Heide des Glücks des Paradieses nicht teilhaftig, ihn an eine verklärte Frau abgibt, dem Abbild der Mutter Maria (Dante Alighieri 2011).
Dante steht an der Schnittstelle zwischen Antike, christlicher Überlieferung und modernem Individualismus. Dantes „Commedia“ ist eine Kosmologie, die sich im Ablauf der Wanderung des Helden erschließt, ein raum-zeitliches Kontinuum, in dem sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft zwischen Hölle und Himmel ereignen. Man kann sie als Entwicklungsroman lesen, dessen Zentrum die verbotenen Wünsche sind, symbolisiert durch die wilden Tiere im Wald am Tage vor Karfreitag 1300. Unter der Führung Vergils wird der Held der Verworfenen ansichtig, zu denen er nicht gehört. Hier ist er der vom Grauen gepackte Zuschauer, im Purgatorio aber der Sünder, der sich mühselig durch die Hierarchie der Todsünden zur Läuterung empor arbeitet und sich dadurch der verbotenen Wünsche entledigt. Der Lohn dieser Befreiung ist die Wiederbegegnung mit Beatrice, der als irdische Person früh Verstorbenen, unter deren Führung er, der irdischen Wünsche ledig, sich zwischen Planeten, Sonne und Fixsternen Gott nähert.
Fünfhundert Jahre später entsteht eine moderne Kosmologie. Anstelle von dreien sind es zwei Teile, anstelle des Herrschers der Unterwelt ist Mephistopheles, Fausts alter ego, Polarität, die den ganzen Faust durchzieht. Fausts Sünde ist seine Hybris, an der er in allen Stationen scheitert. Seinem Streben steht der materielle Nihilismus des Mephisto entgegen. Sie sind ein unauflösbares Paar, aber nicht des Führers und des Geführten wie bei Dante. Bei beiden, Dante wie Goethe, sind die Protagonisten das Zentrum von reichhaltigen Szenen als Verkörperung der Welt. Bei beiden gibt es ein weibliches Wesen, das sich als größer erweist, Beatrice und Gretchen, und beiden gehört die Schlußapotheose. „L’amor che move il sole e l’altre stelle“ – und: „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin, bleibe gnädig!“ (Dr. Marianus). „ […] Das Unbeschreibliche, Hier ists getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan.“ (Chorus mysticus). Aber Dante steht in der christlichen Vorstellungstradition. Faust kennt noch Gott, aber er ist, als Zwiegestalt, ein zerrissener moderner Mensch (Goethe 2000c; Trunz 2000).
Die Intrige als List, verbotene Wünsche durchzusetzen
Man täte dem Thema Unrecht, wenn man es nur auf den Gipfeln der Literatur aufsuchte. Verbote und Übertretung sind das Material, aus dem das Leben (auch) besteht. Wir finden es in den Trivialitäten der Lebensbewältigung wie auch in dessen schmuckloseren und kunstvollen Abbildern der Literatur. Hier entfaltet es oft einen besonderen Reiz gerade wegen der Verwandtschaft zu jedermanns Leben.
Verbotene Wünsche können unerfüllte Sehnsucht bleiben, im Geheimen mit und ohne die Beteiligung anderer, in Übereinstimmung mit anderen erfüllt werden oder aber gegen die Interessen der Wunschgegner durchgesetzt werden. Dafür können Formen von Machtausübung und Gewalt dienen, wenn der Wünschende stärker und skrupellos ist, oder aber mit den Mitteln von List und Täuschung in der Intrige, der intelligenten Durchsetzung eigener verbotener Wünsche.
Intrige ist geplante, zielgerichtete und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum eigenen Vorteil. Und man darf sagen, daß die Art und Weise der Verstellung das je Besondere einer Intrige ausmacht. „Der kategoriale Imperativ des Intriganten lautet: handle so, daß alles, was du unternimmst, Teil einer höheren Lenkung sein könnte, die dich, unabhängig von Gut und Böse zu dem von dir gewünschten Erfolg führt. Lebe nicht im Glauben an eine geheime Steuerung der irdischen Dinge, sondern als einer, der sie selber im Geheimen steuert“ (v. Matt 2009).
Goethe hat die Intrige mit der unvergleichlichen Eleganz der Bösartigkeit in seiner Verserzählung über den schon immer als Symbol der Hinterhältigkeit geläufigen Fuchs, im „Reineke Fuchs“ dargestellt, als Parabel der Gesetze des Gemeinwesens, von denen er als Minister viel wußte (Goethe 2000a).
Die Literatur lebt zu großen Teilen von der Intrige, nicht zuletzt, weil sie ein Moment der Spannung ist. Ihre Hauptelemente, die Anagnorisis, die dramatische Lüftung des Geheimnisses und der Peripetie, „dem Umschlag der Handlung, der plötzlichen Wende, ihrer Logik und ihres Ziels“ hat Aristoteles als erster beschrieben. Schillers Dramen verwirklichen in deutscher Sprache am konsequentesten das dramatische Mittel der Intrige. Intrigen erfordern Kunstfertigkeit: das Opfer der Intrige muß vollkommen und erfolgreich getäuscht werden, weil sonst die Intrige nicht gelänge. Sie ist also bis zu ihrem Gelingen gefährdet. Das älteste literarische Beispiel für ihr Risiko ist das Danaergeschenk. Kassandra wittert die Intrige und will das hölzerne Pferd anzünden, woran sie gehindert wird. Helena, deretwegen es zum Krieg kam, nützt die List, die den Frauen eher zu Gebote steht als den Männen („Gilt´s Listen zu ersinnen, sind die Frauen geschickt“). Sie ahmt in der Nähe des Pferdes die Stimmen der Ehefrauen von griechischen Heerführern nach, und Odysseus hat genug zu tun, um den Gefährten das Maul zu stopfen, weil die Helden ihren vermeintlichen geliebten Ehefrauen antworten wollten. Einer ist bei der Maßnahme des Odysseus gar erstickt (v. Matt 2009).
Das dramatische Mittel der Intrige käme nicht so massenhaft in der Literatur vor, als List, Verkleidung, Betrug, Verstellung, wäre es nicht ein Mittel der Realitätsbewältigung, das gerade Schwächeren zu Gebote steht. Es ist das Machtmittel der Schwächeren und der Kompromiß zwischen unvereinbaren Wünschen, typischerweise zwischen Lebenspartnern, wenn Versuchung und Beharrungswunsch, Emanzipation und Bindung sich die Waage halten. Im trivialen Alltag wie im Drama pflegt irgendwann die Peripetie das Arrangement zu beenden: Trennung und ihre Folgebeziehungen oder Versöhnung und Kittung des Bruches.
Eine alltägliche, abgemilderte Form der Intrige ist der Klatsch. Der verbotene Wunsch ist hier die üble Nachrede, die aber unter den Kautelen der Vertrautheit, der – meistens unwirksamen – Verabredung der Nichtweiterverbreitung, deren Weiterverbreitung stillschweigend vorausgesetzt ist, so gestaltet wird, daß mit den Opfern der Nachrede geredet werden kann, als sei nichts geschehen. Es ist eine elegante Lösung für Ambivalenzen und untergründige Feindseligkeiten und ein symbolischer, kein realer Mord, der das Kunststück zustande bringen muß, den Rufmörder nicht als Mörder zurückzulassen, sondern als Vertrauten und Diskreten.
Boothe (2011) beschreibt den Klatsch als genußvolle Entblößung eines Dritten, ein notorisches Verführungsspiel. Die gespielte Verweigerung und die damit erzeugte Nachfrage des Klatschrezipienten schaffen einen Pakt, der die Geschichte in Gang setzt.
In der Literatur ist das ein Sonderfall, am perfektesten dargestellt in den Séancen der Herzogin von Guermantes. Hier trifft sich die Gesellschaft des Hochadels, die sich als intellektuelle und moralische Elite versteht, obwohl Marcel Proust sie als in jeder Weise medioker quasi hinterrücks erdolcht, wie sie selbst mit ihresgleichen Abwesenden verfährt (Proust 2000).
Die verbotenen Wünsche, im Alltag der Gesellschaft verpönt, dürfen in der Literatur genossen werden. Das Skandalöse der Gesellschaft darf zur Norm der Literatur werden, in der neueren Literatur oft als Test für das Publikum, wie weit es Takt, Ästhetik, Schamgefühl als Ausdruck seiner Avantgardetauglichkeit verleugnen kann.
Die verbotenen Wünsche in der Literatur
Die Literatur ist der wahre Ort der verbotenen Wünsche. Dante durfte zwar seine Feinde in die Hölle verbannen, aber er war noch im christlichen Weltbild verankert. Schon Boccaccio, der zu dessen Ehren sein „Decamerone“ in hundert Geschichten erzählte, wie sein Vorbild seine hundert Canti, befreit sich daraus. Sein praller, sehr irdischer Kosmos ohne Transzendenzstreben spiegelt in der Laszivität vieler seiner Geschichten nicht nur das Über-die-Stränge-schlagen der zehn der Pest entkommenen jungen Frauen und Männer. Schlimmer als die verbotene Erotik war für die zeitgenössische kirchliche Obrigkeit die scharfe Kritik am Klerus (Boccaccio 2010).
Dieselbe, vom Geiste des Individualismus getragene Kritik findet sich 200 Jahre später in Rabelais‘ „Gargantua und Pantagruel“. Hier verbirgt sich die Gesellschaftskritik in einer grotesken Riesenwelt: unflätig, respektlos, obszön – ein Buch, das allem Anstand Hohn spricht. Anders als bei Boccaccios Erotik spielen hier Frauen keine Rolle, aber Rabelais erfindet ein Kloster, in das nur junge, schöne Menschen paarweise aufgenommen werden, und dessen Ordensregel nur aus der Vorschrift beststeht: „Tu, was du willst“ (Rabelais 2010).
Dieses satirisch-emanzipatorische Motto der Renaissance könnte über dem literarischen Werk und dem Leben von Donatien Alphonse François de Sade stehen, der von der Darstellung aller denkbaren Formen von sexueller Praxis geradezu besessen war, sein Leben aber großenteils in Gefängnissen und Irrenanstalten zubrachte. Seine Werke, die lange Zeit nur eingeschränkt verfügbar waren, sind nicht aufgrund ihrer literarischen Qualität, sondern wegen des uneingeschränkten Verstoßes gegen alle gesellschaftlich-sexuellen Tabus von großem Einfluß auf die spätere Literatur bis zum heutigen Tag, als Pornograph verdammt, als Aufklärer gerühmt (Wikipedia 2013).
Von anderem literarischen Kaliber ist die rätselhafte Figur der Mignon in Goethes „Wilhelm Meister“. Im Roman wird sie als Mitglied einer Theatergruppe angekündigt, das einen Eiertanz mit verbundenen Augen darzubieten versteht. Leibhaftig begegnet sie dem Leser als ein orientalisch gewandetes Zwitterwesen von ca. 13 Jahren. Sie singt sehnsüchtige Lieder von einer südlichen Landschaft, in die sie mit ihrem Geliebten – Beschützer – Vater ziehen will. Von Sehnsucht und Leiden ist die Rede, von der Notwendigkeit zu schweigen, von einem Geheimnis. Zwischen ihr und Wilhelm Meister entsteht eine enge Beziehung, für welches die dreifache Qualität im erwähnten Lied kennzeichnend ist. Er ist für sie scheinbar Vater- und Beschützerfigur; aber eines nachts versucht sie in sein Zimmer einzudringen, muß jedoch schmerzlich erfahren, daß ihr Philine, jene sexuell freizügige, aber anhängliche kokette junge Frau zuvorgekommen ist. In den Armen Wilhelms erlebt Mignon ihren ersten jungfräulichen Orgasmus. Die Darstellung ist so eindeutig wie diskret, dass erst der Psychoanalytiker Kurt Eissler (1984-1985) sie richtig deutete. Davor war über einen epileptischen oder hysterischen Anfall gerätselt worden. Goethe erweist sich hier, wie Freud (1930) treffend bemerkt, als großer Enthüller und Verhüller. Später erfahren wir, daß Mignon die Frucht einer Inzestbeziehung ist. Nichts Verbotenes ist hier ausgelassen, aber von keiner Empörung wird die Rezeption des Werkes begleitet (Goethe 2000b).
Aus sich heraus ist diese Romanfigur, Produkt einer verbotenen Liebe, faszinierend, aber sie wird in ihrer Rätselhaftigkeit erst verständlich, wenn sie als Verschlüsselung von Goethes Schicksal in den ersten zehn Weimarer Jahren verstanden wird, wo auch „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (Goethe 2000b), jedenfalls in ihrer ersten Fassung (Goethe 1986) entstanden sind.
Goethe hatte, was erst seit etwas über zehn Jahren wirklich entdeckt worden ist, offenbar eine geheime Liebesbeziehung zu der Herzogin Anna Amalia, die eine verbotene Liebe bleiben mußte, weil die Liebesbeziehung zwischen einer Angehörigen des Hochadels und einem Bürgerlichen einem absoluten Verbot unterlag. Der Altonaer Arzt Struensee wurde bekanntlich um diese Zeit für seine Beziehung zur dänischen Königin mit dem Tode bestraft. Der Aufrechterhaltung des Geheimnisses diente wohl auch die ausdrückliche Öffentlichkeit der scheinbaren Liebesbeziehung zu Charlotte v. Stein, der treuen Hofdame, die u. a. als Strohfrau ihre Rolle so vorzüglich spielte, daß sie bis heute als die Geliebte Goethes gilt. Das diente dem gemeinsamen Interesse des Weimarer Hofes und Goethes, das Geheimnis aufrecht zu erhalten. Der Hof konfiszierte den einschlägigen Briefwechsel, der bis heute verschwunden ist. Lediglich die Briefe Goethes an „Frau v. Stein“ blieben, da scheinbar unverdächtig, erhalten. Sie sind aber, wie der nähere Augenschein erweist, großenteils gar nicht an sie gerichtet. So ist inmitten der ungeheuren Fülle der Goethe-Literatur das Geheimnis einer verbotenen Liebe bis vor kurzem unentdeckt geblieben, eine gelungene Intrige (Ghibellino 2012; Speidel 2012; 2010; 2008).
Mignon, das Symbol dieses Geheimnisses, wurde sozusagen zur Mutter all der vielen „Kindsbräute“, also der höchstens 14- bis 15-jährigen Mädchen in Biedermeier und Realismus, eines literarischen Typus, der heute, wäre er Realität, inmitten der sexuellen Libertinage unserer Gesellschaft zur strengsten Verfolgung des männlichen Partners, des Täters, Anlaß gäbe. Bei Kleist, E.T.A. Hoffmann, Heine, Stifter, Keller und Fontane finden wir diesen Typus.
Am auffälligsten sind die „Kindsbräute“ in Theodor Storms Lyrik und Prosa. Es sind erotisierte, inzestuöse Geschwisterbeziehungen oder gemeinsam aufwachsender Held und Heldin. Das erotische Begehren wird antizipiert, aber die Beziehungen scheitern. 0der es wird von den Folgen eines Vater-Tochter-Inzests berichtet.
Heinrich Heine thematisiert die erotische Beziehung, die sowohl Mutter als auch Tochter auf das lyrische Ich ausüben, in ironisch-frivolem Ton:
„In welche soll ich mich verlieben,
Da beide liebenswürdig sind?
Ein schönes Weib ist noch die Mutter,
Die Tochter ist ein schönes Kind.
Die weißen, unerfahrnen Glieder,
Sie sind so rührend anzusehn!
Doch reizend sind geniale Augen,
Die unsere Zärtlichkeit verstehen.
Es gleicht mein Herz dem grauen Freunde,
Der zwischen zwei Gebündel Heu
Nachsinnlich grübelt, welch von beiden
Das allerbeste Futter sei“
(Stein et al. 2010).
Bekannter als diese eher schwärmerischer Phantasie überlassenen literarischen Gestalten und deshalb berühmter sind Wedekinds Lulu, vor allem durch Alban Bergs Oper und Nabokovs „Lolita“ (1955).
Eine in der Literatur reich vertretene Steigerungsform ist der Inzest. Allerleirauh in dem schönen Märchen der Brüder Grimm ist den Nachstellungen des Vaters gerade noch entkommen. Im „Ring des Nibelungen“ ist der Inzest das mit verführerischster Musik geschmückte und von Wagner-Liebhabern bejubelte Kernstück. Siegfried, Frucht des Inzests, heiratet seine Tante. Die Begeisterung darf sein, weil am Ende der Untergang steht. Thomas Manns „Wälsungenblut“ (1993) greift das Thema in schönster literarischer Sprache auf. In den „Elixieren des Teufels“ (E. T. A. Hoffmann 2007) werden Wahnsinn und Auslöschung einer Familie mit dem Inzest begründet, und Wikipedia nennt über 60 Fälle von literarischem Inzest.
In der Literatur, dem Medium der partiellen Gedanken- und Phantasiefreiheit darf dies genossen werden. Jedenfalls fällt das nicht unangenehm auf, vor allem wenn ein Meister wie Nabokov den Kindesmißbrauch erzählt, der allerdings anfangs Empörung erweckte, bis die zunehmende Gewöhnung des Publikums Lolita in die literarische Normalität holte.
Kunst, Moral und Überleben
Der Bereich der Verbote ist in der Literatur unter dem Einfluß der Aufklärung und des von ihr ausgehenden Befreiungspathos, das seine Notwendigkeit überdauert hat, dahingeschmolzen wie die Alpengletscher im Klimawandel und mit ihnen auch ihr Komplementärbereich der Übertretungen. Dabei wurden auch ästhetische Strukturen freigelegt, welche zuvor durch die Gletscherästhetik bedeckt waren.
Die Freiheit der Kunst, als höchstes gesellschaftliches Gut behandelt, gilt als das Kind der Aufklärung. „Sir, geben Sie Gedankenfreiheit!“ Sie hat aber ältere Quellen (s.o.) und ist ein Erbe des Individualismus, des einen der beiden Ursprünge unserer Kultur. Deren jeweils zeitgenössische gesellschaftliche Ausformungen interagieren mit Literatur und Kunst in wechselseitiger Beeinflussung, durch welche auch Verbote und Übertretungen neu definiert werden, und zwar auch unterhalb der und unbemerkt von der Freiheitsdoktrin. Gesellschaft und Literatur wiederum interagieren mit den überdauernden Moralen („Werten“), zu denen Alasdair MacIntyre (1981) bemerkte, sie seien keine Neuerfindungen, sondern Reste alter Moral.
Deren religiöser Ursprung, als Vorstellung verblaßt, behält aber partielle Wirksamkeit, weil er dem Bindungswunsch als anthropologischem Apriori entspricht. Sein Gesetz ist der Dekalog, seine Exekutiv-Verbote sind die sieben Todsünden. Betrachten wir diese im Lichte der neuesten experimentellen sozialpsychologischen Forschung, so erweist sich, mit einigen Risiken und Einschränkungen, der Verstoß gegen die Todsünden als für Entwicklung und Fortkommen des Individuums vorteilhaft (Lahan 2013). Aber es ist Forschung aus dem Geiste des Individualismus, dessen Manifest lauten könnte: „Das einigende Element der Gesellschaft ist nicht die Familie oder der Clan, sondern das Individuum.“ John Stuart Mill bezog diesen Satz zwar auf seine Vorstellung zum Erbrecht, aber er eignet sich zur Generalisierung im Geiste des Individualismus (Bollmann 2013). Über dessen Schicksal urteilten Miegel und Wahl (1996) mit ihrem Buchtitel: „Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst.“ Die demographische Entwicklung und deren historische Vorläufer in Athen und Rom geben ihnen recht.
Die Regelung von Verbot und Übertretung in ihrer Abhängigkeit von den herrschenden gesellschaftlichen Idealen kann über den Fortbestand einer Kultur entscheiden. Jede Gesellschaft muß sie aus Überlebensgründen regulieren.
Bibliografie
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Hubert Speidel, Prof. Dr. med., Studium in Tübingen, Wien, Berlin und Montpellier. Von 1961 bis 1983 Tätigkeit an der Psychiatrischen und Nervenklinik sowie der Psychosomatischen Abteilung der II. Medizinischen Klinik des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf, von 1971 bis 1979 als Oberarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik. 1980 bis 1983 Professor an der Psychosomatischen Abteilung des Universitätskrankenhauses. Von 1983 bis 1999 Lehrstuhl für Psychosomatik und Psychotherapie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1996 bis 1999 gleichzeitig Chefarzt des Bereichs Psychosomatische Medizin der Segeberger Kliniken. Bis Sommer 1991 kommissarische Vertretung von Lehrstuhl und Klinik. Seither fachärztliche Praxis. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Psychosomatische Aspekte der Hämodialyse, Herzoperationen und Herztransplantationen, psychotherapeutische Aspekte des Alterns sowie gesellschaftliche Prozesse und Ideologien. Literarische Studien zum Leben und Werk ihrer Protagonisten aus psychoanalytischer Sicht.