Der tödliche Ödipuskomplex

Anna Amalia und Goethe Akademie
zu Weimar

Jahresband 2015
Wilhelm Solms, Hubert Speidel, Carl Nedelmann, Ettore Ghibellino, Michael Hampe:

Perspektiven der Anna Amalia und Goethe Forschung –
Ergebnisse 2014

Der tödliche Ödipuskomplex
Graf Mirabeau – Heinrich Schliemann – Gertrud Kolmar

Theorie des Ödipuskomplexes
Der von Freud benutzte griechische Mythos als Prototyp der zentralen Entwicklungsaufgabe auf dem Weg zur Normalität wie zur Neurose am Ende der frühen Kindheit ist in der fachlichen Diskussion aus der Mode gekommen, seit und weil die präödipalen, strukturellen, frühen Störungen das Interesse und Augenmerk der Psychoanalytiker gewonnen und von dem ödipalen Konflikt als Hauptinteresse abgezogen haben. Er existiert fast nur noch als das Präödipal.
Der große Mythenforscher Kurt Hübner hat ihm in seinem Werk „Die Wahrheit des Mythos“ ohnehin den Todesstoß versetzt. Er schreibt: „Selbst wenn man von den mannigfachen Varianten absieht, in denen dieser Stoff seit altersher aufgetreten ist, und sein Augenmerk auf das Drama des Sophokles richtet, so gibt es so gut wie nichts darin, was auf ein komplexiöses Verhalten des Ödipus im Sinne Freuds hinweisen könnte. Wie kann Ödipus das Verlangen nach der Tötung des Vaters befriedigt haben, wenn er, als er ihn umbrachte, gar nicht wußte, daß er sein Vater ist? Wie kann er das Verlangen nach dem Beischlaf mit der Mutter befriedigt haben, wenn er nicht wissen konnte, daß es seine Mutter ist ?“ <…> „Die Eheschließung mit der Mutter <ist> keineswegs die Folge einer Liebesbeziehung zu ihr <…>“. Sie erfolgt nämlich ausschließlich deswegen, weil Ödipus mit der Errettung der Stadt die Königswürde und damit das Beilager der Königin <…> erworben hat. Was aber die Worte der Jokaste betrifft: ‚Denn viele Menschen haben wohl in Träumen schon/ der Mutter beigelegen‘, so stützten sie sich auf einen den Griechen geläufigen Topos, wonach ein solcher Traum bisweilen den Tod, bisweilen auch Landeroberung bedeuten kann <…>. Die Deutung der Ödipus-Tragödie durch Freud und seine Anhänger ist also schlechthin willkürlich. <…> Gerade weil Ödipus gottesfürchtig die schrecklichen  Verbrechen vermeiden will, die ihm das Orakel voraus gesagt hat, wird er ungewollt zum Vollstrecker der Weissagung. <…> Seine Taten wirken wie die Pest, die eine ganze Stadt vergiftet. Schuld ist also hier ein Schicksal, das Götter und Orakel verhängt haben. <…> Zu einer solchen Auffassung von Schuld und Sühne gibt es keinen psychologischen Zugang im heutigen Sinne. Wir verlegen Schuld und Sühne in das ‚Innere‘ des Menschen. <…> So ist unsere Sicht eine der sophokleisch-griechischen geradezu entgegengesetzte. <…> Für Sophokles sind es die ‚objektiven‘ Ereignisse, die zählen, weil mythisches Ich und Welt, Subjekt und Objekt nicht voneinander streng getrennte Sphären darstellen, sondern eine unauflösbare Einheit darstellen. <…> Das, was wir ‚Ich‘ nennen, jenes Gegenstandsfeld der Psychologie, verschwindet mythisch in dieser Einheit.“
Soweit Hübner. Es ist eine schöne Zusammenfassung der Wahrheit des Mythos: die Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt und die Externalität der Motive in Gestalt des Ratschlusses von Göttern und Orakel. Hübner argumentiert aber Freud gegenüber mit den gedanklichen Mitteln des Logos, der eine andere Wahrheitsebene beschreibt als der Mythos, dessen Wahrheit er in seinem Buch gegen den Logos verteidigt, also das Narrativ gegen die logische Abstraktion. Hübner hat offensichtlich nicht Freuds Auseinandersetzung mit Hamlet gelesen. Freud schreibt: „Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dieselbe Stellung eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kindheitswünsche zeigt.“ Diese Gewissensskrupel seien nichts anderes als die Erscheinungsform des unbewussten Wissens, dass er „wörtlich verstanden selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder.“ Den Unterschied zwischen Ödipus und Hamlet beschreibt Freud so: „Im Ödipus wird die zugrundeliegende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Leben gezogen und realisiert, im Hamlet bleibt er verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz <..> nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen.“ Für ihn zeigt sich an den beiden Stoffen die kulturelle Entwicklung. Er schreibt: „In der veränderten Handlung des nämlichen Stoffes offenbart sich der ganze Unterschied im Seelenleben der beiden weit auseinander liegenden Kulturperioden, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben.“ Norbert Elias hat sich in seinem magnum opus „Über den Prozeß der Zivilisation“ dieser Gedanken als eines zentralen Topos bedient.
Freud bemühte sich immer wieder und lebenslang um neue Definitionen und Formulierungen im Rahmen dualer Konflikte. Dabei handelt es sich, wie Laplanche und Pontalis betonen, um gegensätzliche innere Forderungen. Der ödipale Konflikt ist für Freud der Kernkomplex der Neurose.
Schon bei Sophokles ist aber der Kern des Problems mehr als Vatermord und Inzest. König Ödipus sucht nach dem Schuldigen für die tödliche Pest. Er wird immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, muss eigene Schuld anerkennen und die Konsequenzen tragen. Insofern hat Freud recht. Die allgemeine Wahrheit ist, dass Menschen unbewusst Prozesse konstellieren, die konfliktreiches, oft destruktives Potenzial enthalten.
Freud hat nie eine endgültige Formulierung entwickelt. In einem modernen, umfassenden Sinne hat Mertens folgende Definition gegeben: „Der Ödipus-Komplex umfasst <…> die Gesamtheit der kindlichen Liebes-, Hass- und Schuldgefühle gegenüber den Eltern.“ Es würde den Rahmen sprengen, wenn ich die Einzelheiten und Varianten diskutierte. Die m. E. beste moderne Auseinandersetzung darüber findet sich in dem ausgezeichneten Buch „Praxis der psychodynamischen Psychotherapie“ meiner ehemaligen Doktorandin und späteren Mitarbeiterin Annegret Boll-Klatt. Das Kapitel „Der ödipale Konflikt“ stammt von dem Ko-Autor Matthias Kohrs.

Jedenfalls ist der ödipale Konflikt eine lebenslange Angelegenheit, und davon handeln die drei biographischen Vignetten im Folgenden.

Allerdings liefert die psychoanalytische Abwehrlehre zum Thema Ödipus noch überraschende Erkenntnisse. In seiner Arbeit „Die Verleugnung der Realität“ setzt sich Carl Nedelmann mit dem Geschehen in Sophokles´ „König Ödipus“ aus dem Blickwinkel dieses psychischen Mechanismus auseinander und kommt unter Berücksichtigung einer älteren Arbeit von John Steiner zu einer Deutung, die über Freud hinausreicht. Freud hatte ja die Unwissenheit des Ödipus als Ausdruck von Verdrängung verstanden. Nun gibt es aber in dem Drama des Sophokles einige Hinweise, die für die Wirksamkeit komplexer psychischer Vorgänge sprechen. So berichtet Sophokles von dem Diener, der den Mord im Hohlweg miterlebte und Jokaste informierte. Nedelmann schlußfolgert auf das buchstäblich Naheliegende, dass Jokaste die Narben an den Füßen des Ödipus, der schon altersmäßig ihr Sohn sein könnte, nicht entgangen sein können. Jokaste, so Nedelmann, hielt nichts von Orakelsprüchen und Enthüllungen. Sie beschwichtigte, als Ödipus von beunruhigenden Gerüchten über seine Rolle berichtete und war überzeugt, dass der glücklicher lebt, der von Träumen nichts hält. Der Traum, von dem hier die Rede ist, und von dem sie zu Ödipus spricht, handelt aber davon, dass schon öfter ein Sterblicher der eigenen Mutter im Traum beigewohnt habe.

Hübner hatte, wie erinnerlich, diesen Traum generalisierend als einen den Griechen geläufigen Topos geschildert, aber er hatte damit den psychologisch-interaktionellen Aspekt nicht gewürdigt, wer hier zu wem spricht.

Die Frau, welche die Fußnarben ihres jungen Mannes wahrgenommen hat und diesem von einem Inzesttraum spricht, weiß mehr. König Kreon, Jokastes Bruder, der wegen des Ausbruchs der Pest in Theben das Orakel befragt hatte, bagatellisiert die Realitätsverleugnung – denn darauf läuft es hinaus – damit, man habe sich wegen der Bedrohung der Stadt durch die Sphinx seinerzeit nicht um die Aufklärung des Verbrechens kümmern können. Man erfindet eine Mörderbande, die Laios getötet habe. Ödipus will die Wahrheit ergründen, bekämpft aber Kreon, der ihr auf der Spur ist. Die Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet ein Blinder, der „Seher“ Teiresias den genauesten Blick hat. Aber die Wahrheit verbirgt sich an verschiedenen Orten. Ein Betrunkener ruft Ödipus zu, er sei gar nicht der Sohn des korinthischen Königspaares Polybos und Merope, für den er sich hält. Ein Bote meldet sich und berichtet, dass ihm das Kind von einem Hirten des Laios übergeben und von ihm an Polybos weitergereicht worden sei. Allmählich bricht das Realitätsverleugnungsgebäude zusammen, an dem alle mit Wissen, Ahnen, Verleugnen und Verschweigen beteiligt sind, und die Anerkenntnis des Grauens bricht sich Bahn: Jokaste erhängt sich und Ödipus sticht sich mit zwei Kleiderspangen aus ihrem Kleid die Augen aus. Die Selbstbestrafung begründet nachträglich die ratio der allseitigen Realitätsverleugnung. Deren Varianten beschreibt Nedelmann und zitiert John Steiner, der vorschlug, die Verleugnung „turning a blind eye“ und „turning a deaf ear“ zu nennen, womit gemeint ist, dass etwas, was gesehen wird, nicht mit Affekt besetzt wird und deshalb nichts bedeutet. Davon ist bei Sophokles die Rede. Die Bezeichnungen beziehen sich auf die berühmte Geschichte des Lord Nelson, der in der Seeschlacht von Abukir ein Auge verloren hatte. Als in der Seeschlacht vor Kopenhagen die Engländer zu verlieren drohten und die Flagge zum Rückzug gehißt wurde, nahm Nelson, der ein Schiff befehligte, sein Perspektiv vor das blinde Auge, sagte, er sehe nichts und ließ weiterschießen. Die Engländer schlugen die Dänen vernichtend. Nelson verleugnete keineswegs die Realität, schätzte sie vielmehr anders ein als die Admiralität und verbarg seine Insubordination, begründet durch seine bessere Realitätseinschätzung, unter einem Verleugnungspiel.

Die Geschichte hatte ein Nachspiel: der dänische König brauchte eine neue Flotte, und ihm fiel ein, dass es in Kiel einen besonders prächtigen Buchenwald gab, den Düsternbrook, der noch heute ein Schmuckstück der Stadt ist. Der Kieler Bürgermeister, ein Ausbund unbeschädigten Realitätssinns, fuhr, die Abholzung zu verhindern, nach Kopenhagen, denn Kiel war derzeit dänisch. Er besuchte nicht den König und nicht die Königin, sondern die Mätresse des Königs, und deshalb erfreut der Wald die nicht mehr dänischen Kieler.

Mirabeau
Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau, geb. am 9.3.1749, im selben Jahr wie Goethe, war der Sohn  eines abgedankten, hochdekorierten Offiziers, der später vielbeachtete Bücher als Nationalökonom – Physiokrat nannte man das damals – schrieb, mit denen er sich beim König durchaus unbeliebt machte.  Von ihm ist überliefert, dass er ein ausschweifendes Verschwenderleben führte, launisch und brutal war, seine aus reichem Adel stammende Frau schlecht behandelte, ihr Vermögen durchbrachte und sie schließlich ins Gefängnis werfen ließ. Gegenüber der Familie war er geizig und an seinen 11 Kindern, deren ältester Gabriel war, nicht interessiert und ihnen nicht förderlich. Seine Frau bezahlte seine Schulden noch, als sie sich schließlich von ihm getrennt hatte.
Als Sous-Lieutenant fiel Gabriel dem König auf. Er durfte an den Hof, was aber mit erhöhtem ökonomischem Aufwand verbunden war. Weil der Vater ihn nicht unterstützte, machte er Schulden. Deswegen ließ der Vater ihn für ein Jahr im Gefängnis auf der Insel Ré festsetzen, und nur ein Feldzug auf Korsika erlöste ihn davon. Die nachfolgende Bewirtschaftung der väterlichen Güter brachte neue Schulden.
Erfolgreich warb er um die Tochter des reichen Marquis de Marignane. Gegen die Heirat waren sowohl sein Vater wie auch die Schwiegereltern. Weil er sich ohne väterliche Unterstützung dem gehobenen Lebensstil der Schwiegerfamilie anpassen musste, machte er erneut Schulden. Nun ließ der Vater ihn in das Chateau d´If vor der Küste von Marseille werfen, das wir aus „Le Comte de Monte Christo“ von Alexandre Dumas kennen. Seine Frau, von der er einen im Alter von fünf Jahren verstorbenen Sohn hatte, verließ ihn inzwischen. Er sah sie nie wieder.
Der Gefängnisdirektor Godefroi d´Alegne war ihm gewogen. Die ihm gewährte Freiheit brachte ihm die Bekanntschaft der jungen Frau des Weinschenks der Zitadelle, eines brutalen Mannes. Graf Mirabeau überredete sie zur Flucht. Dafür wurde er strafweise in die Zitadelle von Joux in der Franche-Comté verlegt. Er konnte sich des Vorwurfs des Diebstahls von 4000 Francs erwehren, welche die junge Frau mitgenommen hatte.
Hier lernte er die schöne, junge zweite Frau Sophie des alten Marquis de Monnier kennen. Die beiden verliebten sich ineinander und flohen auf Umwegen nach Amsterdam. Er wurde dafür später zum Tode verurteilt, konnte sich aber noch später vor Gericht davon befreien.
Mirabeau, der sich trotz aller Katastrophen als Schriftsteller schon einen Namen gemacht hatte, versuchte, mittellos wie er war, durch schriftstellerische Tätigkeit den Lebensunterhalt zu sichern. Weil er dazu seinen Namen benutzen musste, wurde er gefasst, bevor sie nach dem sicheren London fliehen konnten, und in das Gefängnis von Vincennes gebracht; seine Geliebte kam in ein Kloster, wo sie die gemeinsame Tochter Sophie-Gabrièle gebar, die nur zwei Jahre alt wurde, und sich, tief depressiv, mit 26 Jahren suizidierte.
Im Gefängnis durfte Mirabeau zwar lesen und schreiben, aber seine Gesundheit war ruiniert – offenbar litt er unter einer Lungentuberkulose – und er schrieb Abschiedsbriefe. Er entwickelte dennoch eine reichhaltige literarische Produktion: „Sur le Despotisme“, über Moses Mendelssohn und die Juden. Ein pornographischer Entwicklungsroman: „Le Rideau levé ou l´Education de Laure“ erschien zum Schutz seines Rufs anonym. Nach seiner Entlassung brachte er von einer Reise nach Preußen die „Histoire secrète de la Cour de Berlin“ mit. Sein 7-bändiges Hauptwerk „De la monarchie prussienne sous Frédéric le Grand“ ist auch eine Anklage gegen den Vater. Hier rühmt er nämlich die Fürsorglichkeit des Königs, die er selbst vermisst hatte. Er widmet das monumentale Werk, das ein Jahr vor der Französischen  Revolution entstand, dem Vater. Das Doppelbödige der Kritik und der Unterwerfung dokumentiert sich in der Widmung.
„A mon père. Mon père, Je n´ai pas osé vous demander la permission de publier ce livre sous vos auspices; car, si vous me l´eussiez refusée, vous m´auriez fait une peine profonde, et … je crois qu´il m´auroit encore été impossible de ne pas vous le dédier.“
Er wagte nicht, den Vater, der ihm immer noch eine große und gefährliche Autorität war, um die Erlaubnis zur Publikation zu bitten, weil er eine Abweisung fürchtete, er, der inzwischen berühmte Schriftsteller. Es folgen ausführliche Erklärungen zum Gegenstand. Sie enden mit Sätzen, die fast zu Tränen rühren können.: „Vous ne pouvrez voir indifférence que je devienne utile, Cette idée qui fait mon espoir et une consolation, m´enhardit à mettre l´ouvrage et l´Auteur à vos pieds.
Daignez, MON PERE, recevoir les assurances de mon plus profond respect, A Paris, 29 Août 1788.
Le Comte de Mirabeau“
Er fleht also diesen grausamen Vater an, zu erkennen, dass sein Sohn nützlich geworden war. Diese Idee, die seine Hoffnung und sein Trost ist, ermutigt ihn, das Werk und den Autor dem Vater zu Füßen zu legen.  Er hat, wie wir das in der Psychotherapie von ehedem mißhandelten Kindern kennen, nicht aufhören können, auf die Liebe des Vaters zu hoffen. Unter der masochistischen Unterwerfung verbirgt sich aber deutlich die öffentliche Anklage. Eine doppelte Botschaft also.
Es ist auch ein biographischer Hinweis darauf, warum er den schwachen König unterstützen und zu einem besseren machen will, ihm seine Macht nehmen, aber sich als „utile“, als nützlich im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild anbieten will.
Mirabeau wurde der pragmatische Theoretiker und der weiseste Pragmatiker der Revolution, die bedeutendste Gestalt der ersten, gemäßigten Phase der Revolution. Dazu verhalf ihm auch der Umgang mit dem schwierigen Vater.
Zuletzt war er beim Volk in Misskredit geraten, als sich herausstellte, dass er für die geheime Beratung des Königs Geld erhalten hatte. Das war gewiss ungerecht, denn er wollte das Königtum erhalten, und die Beratung fügte sich seinen politischen Vorstellungen. Dass der König seinem Rat nicht folgte, führte zu dessen Demütigung und bereitete das Ende vor. Mit dem Lohn konnte Mirabeau allerdings seine Schulden bezahlen, aber er verriet damit nicht seine politischen Prinzipien.  Die zweite Phase der Revolution, in der sich alle Befürchtungen Mirabeaus bewahrheiten sollten, erlebte er nicht mehr. Er starb am 2. April 1791. Er war ein kranker Mann gewesen, Opfer des Kampfes mit dem Vater.
Hätte er überlebt und hätte er sich durchgesetzt, so wäre Frankreich das große Gemetzel erspart geblieben, der blutigen Interpretation von Rousseaus volonté générale durch die jungen, regierungsunerfahrenen Theoretiker, die in den blutigen Totalitarismus führte. Es war ein gnädiger Tod, denn er wäre gewiß guillotiniert worden, wie sein Gegenspieler Robespierre.
In der Einleitung zu diesem Werk spiegeln sich die negativen und positiven Ausprägungen des lebenslangen ödipalen Konfliktes, in der Identifikation mit der masochistischen Mutter, der Unterwerfung unter den sadistischen Vater, in der Rebellion gegen und Rivalität mit ihm, indem er beweist, dass er trotz Unterdrückung der bedeutendere Schriftsteller ist und es bis zur Präsidentschaft der Nationalversammlung und bis zu der Rolle als Berater des Königs schafft. Er ist aber auch tief identifiziert mit diesem Vater, als Soldat, als Schriftsteller, als Verschwender und als homme à femmes. Hier spielt allerdings auch eine Rolle, dass er schon als Dreijähriger mit dem Tod gerungen hat, davon durch ein blatternarbiges Gesicht entstellt, sich mit Hilfe seiner hohen  Intellektualität und rednerischen Brillanz der Attraktivität bei Frauen immer erneut versichern musste. Es brachte ihn in tödliche Rivalität zu Vaterfiguren. Sein Vater bekämpfte in ihm gewiss projektiv die eigenen negativen Züge. Graf Mirabeau widerstand ihm, bis die langjährige Unterdrückung seinen frühzeitigen Tod mit 41 Jahren bewirkte. Er war das Opfer des Kampfes mit seinem Vater.

Schliemann
Heinrich Schliemann ist eine der herausragenden Figuren des 19. Jahrhunderts, hochbegabt als Kaufmann – er war schon in jungen Jahren sehr wohlhabend – und mit einem kaufmännischen Spürsinn, der aus ihm eine Art Onkel Dagobert machte, der seine Troja-Forschung selbst finanzieren konnte, samt einer zu diesem Zweck gebauten Werksbahn, hochneurotisch, kränkbar, aber mit dem sicheren Instinkt, sich in Rudolf Virchow eine der bedeutendsten Persönlichkeiten seiner Zeit zum väterlichen Freund und Berater zu machen, der, unneurotisch, wohlwollend und geduldig seine Mängel zu kompensieren versuchte.
Schliemann stammt aus der mecklenburgischen Provinz und war der Sohn eines Pastors, der in dem Knaben die Neugier auf Vergrabenes und Griechisches, samt Troja, erzeugte. Seine Kinderfreundin Minna verband sich ihm in der Neugier auf vergrabene Schätze, und es war klar, dass er sie heiraten würde. Aber der Vater trieb es mit dem weiblichen Personal, verlor darüber Pastorat und Ansehen, so dass Minna nicht mehr mit ihm spielen durfte. Das doppelte Unglück komplettierte sich mit dem frühen Tod der unglücklichen Mutter. Aus allem folgerte, dass Heinrich Schliemann keine höhere Bildung, sondern nur eine schlichte Kaufmannsausbildung blieb. Aber er glaubte, dass, käme er zu Reichtum, er seine Minna wiedergewinnen würde. Das erwies sich später als Illusion – erneutes Unglück. Weit weg von der Quelle seines Unglücks zu sein und reich zu werden wurde zum Ursprung eines unaufhörlichen Reise- und Aktivitätsdrangs. Zwei Schiffbrüche kosteten ihn fast das Leben. Er landete nach dem ersten bei einer Handelsfirma in Amsterdam, begann Sprachen zu lernen – schließlich waren es 21, die er beherrschte. Diese Begabung war eines der Vehikel für seinen kaufmännischen Erfolg, zunächst in St. Peterburg. Er war einerseits geizig und asketisch, das Gegenprogramm zum verachteten Vater, den er andererseits wie die ganze Familie lebenslang versorgte. Auch Minna gehörte später zu den Nutznießern. Die Aussagen seiner Schwestern sprechen dafür, dass er dabei nicht immer taktvoll verfuhr. Eine seiner seltsamen Übungen war eine fanatische Liebe zu kaltem Wasser. Seiner zweiten Frau, einer jungen Griechin, verordnete er kalte Güsse und hielt das für gesund. Während sie unter seinem Regime litt und kränkelte, hielt er mit der Intensivierung der Kuren dagegen.  Nachdem er sich und ihr in Athen den prächtigsten Palast der Stadt gebaut hatte, pflegte er sich in aller Frühe aufs Pferd zu setzen, nach Piräus zu reiten, um dort im Meer zu baden. Man muss es als Reinigungsritual von den väterlichen Sünden verstehen. Virchow gegenüber klagte er über die sexuellen Ansprüche seiner Frau. Das war mit transgenerationeller Askesebuße schwer zu vereinbaren. Virchow empfahl bayrisches Bier und Mäßigung.
Sein Tod war die Folge von Komplikationen der Gehörgangsexostosen, u.a. Taubheit, unter denen er im späteren Alter litt.
Mein Gespräch mit dem Kieler HNO-Arzt Prof. Godbersen ergab, dass Gehörgangsexostosen als biologische Abwehr gegen kaltes Wasser im Gehörgang verstanden werden können. Schliemann starb an den Folgen der Sündenreinigungsrituale, mit denen er unbewusst das väterliche sündige Erbe abzuwaschen versuchte. Die Entzündung hinter der Exostose nach einem Operationsversuch hatte sein Gehirn erreicht, und seine lokomotorische Getriebenheit hatte die Rekonvaleszenz verhindert.
Zwei kindliche Motive hatten seinen Lebenserfolg bestimmt: der Wunsch, durch Reichtum Minna wiederzugewinnen und die vom Vater erzeugte Verlockung, im Boden Schätze zu finden. Ein Motiv hatte ihm den Tod gebracht: die Reinwaschung von den väterlichen Sünden.

Kolmar
Gertrud Kolmar, die auch die preußische Sappho genannt wurde, ist eine der bedeutendsten, wenngleich unter ihnen die unbekannteste deutschsprachige Lyrikerin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit bürgerlichen Namen hieß sie Gertrud Käthe Chodziesner, nach dem Ort bei Posen, aus dem ihr Vater stammte. Den Künstlernamen Kolmar, seit ihrem ersten Gedichtband 1917, verdankt sich dem dortigen einstigen Landrat, der die Eisenbahn in den väterlichen Geburtsort gebracht hatte.
Gertrud Kolmar ist als ältestes von vier Kindern in Berlin geboren, wo der Vater ein prominenter Strafverteidiger war. Die elf Jahre jüngere Mutter war noch sehr jung, als ihre älteste Tochter geboren wurde. Gegen Ende der Schwangerschaft war ihr Vater gestorben, an dem sie sehr hing. Die Tochter Gertrud hatte in der frühesten Phase ihres Lebens offensichtlich eine depressive Mutter. Hinzu kam, dass die zu junge Mutter, von der beschrieben wurde, dass sie über den Zustand einer lebenslustigen, kultivierten höheren Tochter nie hinauskam, mit dem Kind auch deshalb überfordert war. Das Unglück komplettierte sich mit der nächstjüngeren Schwester, die temperamentvoll und durchsetzungsfähig war, und die geboren wurde, als Gertrud zwei Jahre und einen Monat alt war. Sie wurde zur Todfeindin, gleich gekleidet und mit ihr in einem Zimmer lebend.
Es waren keine günstigen Umstände für die Entwicklung einer weiblichen Identität. Schon als Kind wird sie als ernst, zurückgezogen, ja arrogant und verrückt geschildert, nur an wilderen Spielen interessiert, aber auch als dienende, wenn die jüngere Schwester Aufträge nicht erfüllen wollte und Gertrud herangezogen wurde. Unbewusste Schuldgefühle gegenüber der ihr fremden Mutter, deren frühen Gründe sie nicht kennen konnte, banden sie lebenslang an die Familie. Zwei Ausbruchs- und Entwicklungsversuche scheiterten: die Beziehung zu einem Offizier, von dem sie schwanger wurde, endete in einer Abtreibung, die sie gewiss dem Familienfrieden schuldete. Ein Aufenthalt in Dijon förderte zwar ihre guten Sprachkenntnisse, endete aber, statt in Paris, wo die von ihr bewunderten Dichter lebten, in der Rückkehr in die Familie bzw. in Erziehrinnenfunktionen, u. a. in Hamburg. Als die Mutter 1937 starb, übernahm sie die soziale Funktion der Mutter gegenüber dem alternden Vater. Es war ein unbewusster ödipaler Triumph, der aber seinen Preis verlangte. Sie war dem Vater bis in den Tod treu. Während die Geschwister, der Gefahr eingedenk, emigrierten – die Nachkommen leben u.a. im Tessin und in Australien – und ihr dasselbe ermöglicht hätten, blieb sie beim Vater, der das Land nicht verlassen wollte, und teilte mit ihm die zunehmende Verelendung unter den anderen segregierten Juden. Hier gab es, wie Nachklang und Abschied von ihrer Weiblichkeit, noch eine platonische Liebe zu einem jungen Mann. Der Vater starb schließlich in Theresienstadt eines sog. natürlichen Todes, die Tochter wurde in Auschwitz ermordet.
Der ödipale Prozess konnte nicht in einer befriedigenden Identifikation mit der Mutter münden. Als Liebes- und Identifikationsobjekt eignete sich einerseits der Vater. Die Helden ihrer Gedichte waren starke, aber tragisch endende Männer: Napoleon mit seiner treuen, unglücklichen polnischen Geliebten Maria Walewska und Robespierre. Ihre Frauenrolle war die dienende, eine Lösung für die Schuldgefühle wegen ihres unbewussten Mutterhasses, aber um den Preis der nicht vollziehbaren Ablösung, deren Scheitern ihr wiederum schließlich eine privilegierte Position beim Vater verschaffte. Dank ihrer Sprachbegabung und ihrer geheimen Phantasiewelt konnte sie, d.h. ihr lyrisches Ich, einen privaten, verborgenen Kosmos entwickeln, der ihrem Narzissmus neue Stabilität verlieh, so dass sie eines Tages ihrer jüngsten Schwester schreiben konnte: „Ich weiß, daß ich eine Dichterin bin.“
Ihre Gedichte spiegeln mit großer Sprachbeherrschung formal wie inhaltlich ihre hermetische Unzugänglichkeit als Person wider, die sich hinter der Trivialität des Alltags verbarg. Sie fand Bewunderer und Förderer wie ihren Vetter Walter Benjamin und, vor 1933, Ina Seidel. Sie hätte Anschluss an die reiche Berliner literarische Welt finden können. Dagegen stand ihre Persönlichkeit, die nur inneren, sprachlichen Glanz zuließ.
Ihr bekanntestes Gedicht „Die Kröte“ ist eine vollkommene Selbstbeschreibung. Hier heißt es u.a.: „Unter der Regentonne/Morschen Brettern hock´ ich duckig und dick;/Auf das Verenden der Sonne/lauert mein Mondenblick.“ Und es endet mit den Versen: „Komm denn und töte!/Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:/Ich bin die Kröte/Und trage den Edelstein…“
Einem Freund gegenüber äußerte sie sich über das verwandte Bild von Andersens hässlichem Entlein, mit dem sie sich identifizieren konnte. Dieses Selbstbild war ihr die Brücke zu dem in der Verfolgung immer wichtigeren Judentum. Ihr Gedicht „Wir Juden“ endet mit den Versen: „So wirf dich zu dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid,/Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der Starken tritt.“ Schönheit und Stärke mögen verkannt und verborgen sein, aber sie sind nicht verloren.

Literatur:
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bände. Suhrkamp. Frankfurt a. M.,1976

Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. GW II/III, 3. Aufl.. S. Fischer, Frankfurt a.M. 1961

Hahn, Ulla: Nicht immer ist der Vater schuld. Gertrud Kolmars Verwundungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung.141, 22.06.1993

Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. C. H. Beck, München 1985

Kohn, Mathias: Kritik und Erweiterung des Ödipuskomplexes. In: Boll-Klatt, Annegret, Kohn, Mathias: Praxis der psychodynamischen Psychotherapie. S. 123-226. Schattauer, Stuttgart 2014

Kolmar, Gertrud: Das lyrische Werk, hrsg. Regina Nörtemann. 3 Bde. Wallstein, Göttingen 2010

Mahir, Julius Eduard: Der Graf von Mirabeau. Jos. Kösel`sche Buchhandlung, Kempten 1832

Matt, Peter v.: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Reclam, Stuttgart 2001
Mirabeau, Gabriel Victor, Marquis de: De la monarchie prussienne sous Frédéric le Grand. 7 Bde., London 1788

Nedelmann, Carl: Die Verleugnung der Realität. Forum der Psychoanalyse 28:265-275, 2012

Nürnberger, Richard: Das Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleon. In: Mann, Golo (Hrsg.): Propyläen Weltgeschichte. 8. Band, S. 59-191. Berlin-Frankfurt a.M. 1986

Shafi, Monika: Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk. Judicium, München 1995

Speidel, Hubert: Wer war Virchow? Die Sicht eines Psychoanalytikers. In: Andree, Christian (Hrsg.): Rudolf Virchow, Sämtliche Werke, Band1, Abt. V: Virchowiana. Materialien und Dokumente. Wirth, Ingo (Hrsg.): Neue Beiträge zur Virchow-Forschung. S. 83-88. Georg Olms, Hildesheim-Zürich-New York 2010

Speidel, Hubert: Die Persönlichkeit Gertrud Kolmars aus psychoanalytischer Sicht. In: Nagelschmidt, Ilse, Nickel, Almut, Trilse-Finkelstein, Jochanan (Hrsg.): Dichtung wider die Unzeit. S. 43-64. Peter Lang, Frankfurt a.M. 2013

Speidel, Hubert: „Graf Mirabeau“: Eine Revolutionsoper im doppelten Sinne: 1789/1998. In: Ghibellino, Ettore (Hrsg.): Siegfried Matthus – Die weiten Flügel der Musik: Von Ostpreußen nach Berlin in die Welt (im Druck)

Speidel, Hubert: Heinrich Schliemann und die Vatersuche. Im Druck

Speidel, Hubert: Psychoanalyse und Literatur. In Vorbereitung

Steiner, John: Turning a blind eye:  the cover up for Oedipus. Int. Rev. Psychoanal. 12:161-172, 1985

Woltmann, Johanna: Gertrud Kolmar. Leben und Werk. Wallstein, Göttingen 1995