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Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar 7. Frühjahrstagung am 30.März 2013 Hubert Speidel Die Ideologie der Goethe-Gesellschaft und der Klassik Stiftung Weimar im Kampf gegen Ettore Ghibellino „Dem Goethe gehen sie ja auch nach bis in die intimsten Winkel. Widerwärtig, diese Goetheschwärmer und -philologen! ´s ist nicht das Rechte. Wie langweilig ist der Briefwechsel mit Frau v. Stein, wo es sich immer nur ums Essen und Trinken handelt“ (Busch 2002). Ob dieses Aperçu von Wilhelm Busch eine ideologische oder eine polemische Verkürzung der Realität ist, läßt sich schwer entscheiden. Vielleicht war ihm nur die Überschätzung Frau v. Steins ein willkommener Anlaß zum Spott. Damit könnten wir uns identifizieren. Der Ideologiebegriff hat im Laufe seiner Geschichte Wandlungen erfahren. Sein Schöpfer, der Philosoph Antoine Louis Claude Destutt de Tracy wollte 1796 eine einheitliche Wissenschaft von Vorstellungen und Wahrnehmungen entwickeln, „une science qui traite des idées et perceptions“, die nicht ohne sinnliche Erfahrung auskommt, in Antithese zu dem Rationalismus Descartes‘. Er stand damit wie andere Spätaufklärer den Machtansprüchen Napoleons im Wege. Der Begriff wurde nun abgewertet und erst durch Marx und Engels wieder aufgegriffen: die Gedanken der herrschenden Klassen, die mit den bestehenden Produktionsverhältnissen in Einklang stehen, sind auch die herrschenden Gedanken der Gesellschaft (Wikipedia 2013). Wir werden diese Definition unschwer auf die Produktionsverhältnisse von Goethe-Gesellschaft und Klassik Stiftung Weimar übertragen können, auch den Hinweis Louis Althussers, dass Ideologien unbewußt sind. Ideologiekritik im Sinne Karl Poppers umfaßt die Analyse folgender Punkte: dogmatische Behauptung absoluter Wahrheiten, Tendenz zu Immunisierung gegen Kritik, Vorhandensein von Verschwörungstheorien, utopische Harmonieideale und die Behauptung von Werteurteilen als Tatsachen. Es ist, als habe Popper die beiden Weimarer Institutionen gekannt und gemeint. Er kritisiert aber den totalitären Charakter von Nationalsozialismus und Stalinismus. Ernst Nolte, der selbst Opfer totalitärer wissenschaftlicher Ideologie geworden ist, nannte das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Ideologien der Gewalt (2008). Was den Nationalsozialismus betrifft, so ist er inzwischen ein wohlfeiler Gegenstand politischer Gruppen von rechts und links geworden, die dagegen ihre eigenen Ideologien als Wahrheit und Humanität kontrastieren. Ideologien spielen auch heute, vielleicht mehr denn je, eine Rolle, weil sie Gewißheiten in einer Welt schaffen, die immer komplexer und unübersichtlicher wird. Ideologie gibt es nicht nur in der Politik und in den Geisteswissenschaften, sondern z. B. auch in der Medizin. Dass meine Generation als Kinder mit Spinat gequält wurde, den erst Erwachsene freiwillig essen, nämlich weil er wegen seines hohen Eisengehalts so gesund sei, war eine einfach organisierte Ideologie. Sie beruhte darauf, dass Justus v. Liebig, der den Kunstdünger erfunden und damit große Teile der Menschheit von Hungersnöten befreit hat, ein Komma falsch setzte. Ein anderer Großer ist Samuel Friedrich Christian Hahnemann. Berühmt ist er wegen einer hartnäckig überdauernden, wirtschaftlich mächtigen Ideologie des similia similibus oder, mit Matthäus 12, 24-27, der Austreibung des Teufels mit Beelzebub. Seine Homöopathie hat einen tiefen Glauben erzeugt, obwohl die Verdünnungen und das Wassergedächtnis so offensichtlicher Humbug sind. Weswegen ihm eigentlich größter Ruhm gebührt, ist nahezu unbekannt geblieben. Er ist der Erfinder der ärztlichen Anamnese, einer diagnostischen und therapeutischen Maßnahme von allergrößter Bedeutung. Sie transportiert nun den Placeboeffekt der Homöopathie bei seinen Nachfolgern bis heute, wird aber als therapeutisches Rationale nicht rezipiert, seine Wirkung vielmehr der durch die Anamnese erzeugten Magie der Kügelchen zugeschrieben. Dies und anderes sind Beispiele vergleichsweise harmloser Ideologien. Viel problematischer sind gesellschaftliche Ideologien, die sich z. B. hinter dem Getöse der antifaschistischen und Kampf-gegen-Rechts-Bewegung verbergen und ein erhebliches destruktives Potenzial entwickeln wie in Deutschland besonders die Kollektivschuldideologie und auf andere Weise weltweit das Gender-Mainstreaming, das mit einem kulturalistischen Irrglauben, von der Bevölkerung kaum bemerkt, der Minderheit der männlichen und weiblichen Homosexuellen eine ungeheure Macht verleiht, die sie mittels der aus dem Holocaust stammenden, inzwischen zu vielen Machtzwecken von Minderheiten nutzbaren Diskriminierungs- und Opferideologie befestigt hat. Eine deutsche Spezialität, die Antiatombewegung, ist ein Relikt des kalten Krieges, als Deutschland in Ost und West fürchtete, zum atomaren Schlachtfeld zu werden. Die Rezeption der tatsächlichen und befürchteten Folgen in der Öffentlichkeit ist von daher in einem Ausmaß von Irrationalitäten und Realitätsverleugnung beherrscht, dass eine rationale Diskussion kaum möglich ist. Es ist das Schicksal eines Volkes, das den 30-jährigen und zwei Weltkriege, zwei Diktaturen und die Teilung in zwei Machtblöcke nicht aus dem kollektiven Gedächtnis löschen kann. Idyllischer wirkt auf den ersten Blick eine andere, von der Antiatombewegung nicht unabhängige Ideologie, die grüne Religion, ein altes Element des deutschen Nationalcharakters, der aus Situationen politischer Ohnmacht entstanden ist und sich ein idealisiertes, mystisches Bild von Natur als Teil des kollektiven Selbstbildes entwickelt hat, das als Schutz vor allem Unkalkulierbaren dient. Deshalb sind auch die Kämpfe gegen alle neuen Techniken (Eisenbahnen, Flughäfen besonders) konstitutiv. Es ist ein Natur-Biedermeier, das ohne Verzicht zu haben ist, gar noch als Photovoltaik hohe Rendite abwirft (Möller 2013). Weil der so indoktrinierte Bürger diese vorläufig bequeme Existenz verteidigt, entwickelt sich eine mächtige Öko-Diktatur, der sich die Politik wahltaktisch fügt, gar noch sich an die Spitze der ideologischen Bewegung setzt, wie z. B. bei der Atomenergiewende, mit der eine Partei die Wahl in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen hoffte, damit aber scheiterte. Die Folgen spürt das ganze Volk, je ärmer, desto schmerzhafter. Diese gesellschaftlichen Ideologien, die sich immer als menschenfreundlich und fortschrittlich anbieten, obwohl sie in der Regel das Gegenteil davon sind bzw. sich immer mehr zum Gegenteil entwickeln, je länger und unbehelligter sie wirken, eignen sich wegen ihrer makrosozialen Wirkung als Kontrastbilder zu unserem viel begrenzteren, für die gesellschaftliche Situation nur fokal bedeutsamen Thema, obwohl sich zeigen wird, dass sich...
Einleitung Verbote gehören zu jeder Kultur. Sie sind das Negativ, gewissermaßen das Rauchzeichen der verbotenen Wünsche. Ohne Wünsche braucht es keine Verbote. Was verboten wird, ist teilweise kulturell invariant: die Liebe zum falschen Objekt, der Hass mit den falschen Handlungen, die Inbesitznahme am falschen Gegenstand. Verbote haben immer etwas mit anderen zu tun, deren Anforderungen, Idealen und Gesetzen. Sie sind ein kollektiver Verletzungsschutz oder geben vor, das zu sein. Sanktionierte Wünsche können aus ihrem Verbotscharakter entlassen werden, wenn Partner, Gruppen, Gesellschaften, Staaten aus gemeinsamem Interesse einen Vertrag über die Zulässigkeit oder Erwünschtheit der anderweitig verbotenen Wünsche schließen, beispielsweise im Liebesspiel, als schwarze Messen, Karneval, als Tötung im Krieg. Verboten können auch Wünsche sein, die gegen Achtung durch andere und die Selbstachtung verstoßen. Die Verbotsinstanzen können staatliche und andere gesellschaftliche, for-melle oder informelle Gesetzgeber sein, oder aber die innere Instanz des Überichs bzw. des Ich-Ideals. Freuds Verbotsmodell ist die Bewältigung des ödipalen Konfliktes durch Verdrängung als Reifungsleistung. Weil aber die innere Verbotsinstanz die Vertreterin sozialer Normen ist, unterliegen diese Verbote der Qualität der verbietenden Instanz, die auch kriminell, d. h. sozialschädigend und deshalb verbotswürdig sein kann. In: Brigitte Boothe (Hrsg.): Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Autonomie des Wun-sches, rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich, 1. Aufl. 2013, S. 162-181 Unter solchen Bedingungen kann die verbotswirksame Verdrängung z. B. einer frühen Sexualisierung Platz machen. Nicht nur unter den Umständen einer defekten Überich-Bildung unterliegen die Verbotskriterien den sozialen Bedingungen und dem geschichtlichen Wandel, von der Außen- zur Innensteuerung, von der religiösen Bindung zur Säkularisierung, von der Bindung zur Emanzipation. Deshalb verändern sich die Inhalte der Wunschverbote, ohne dass sie notwendig abnehmen. Die Vorstellung der modernen, emanzipierten abendländischen Gesellschaft, sie habe sich aus der religiösen „Unmündigkeit“ gelöst, und sie sei deshalb eine freie, verbotsärmere Gesellschaft, ist illusionär und nur insofern wahr, als auf die aufgehobenen Verbote geblickt wird. Norbert Elias (1976) hat die Entwicklung der Kultur als Resultat zunehmender Innensteuerung, zur Binnenkontrolle der Triebe, verstanden und sich dabei auf Freud bezogen, der die Jahrhunderte zwischen dem Ödipus des Sophokles und Shakespeares Hamlet als einen Weg vom Vatermord zur neurotischen (Mord-)Hemmung beschrieben hat, also von dem erfüllten Tötungswunsch zu dem durch eine neurotische Hemmung verhinderten, unbewußten, verbotenen Wunsch (Freud, 1900; v. Matt 2001). Es ist die Entwicklung vom manifesten zum durch Verdrängung unsichtbaren Wunsch und weiterhin von der Moral und deren religiösem Fundament zur Verrechtlichung. Freud hatte ursprünglich die individuelle Reifung und Kulturfähigkeit durch Verdrängung und um den Preis neurotischer Symptome beschrieben. Später übertrug er sein Modell des Ödipuskomplexes auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sein erster gesellschaftlicher, anthropologischer Entwurf ist „Totem und Tabu“ (Freud 1912) mit dem Vatermord durch die Urhorde als Ursprung der Kultur, analog zur Überwindung des Ödipuskomplexes als Bedingung der Kulturfähigkeit des Menschen. Wie Hamlet den zivilisatorischen Fortschritt gegenüber Ödipus markiert, so ist der Ödipuskomplex der zivilisatorische Fortschritt gegenüber „Totem und Tabu“. Beide Male ist der verbotene Wunsch, sei es als reale Tabuübertretung oder als Konfliktlösung und Reifung durch Verdrängung, der Ursprung der Kultur, im einen Fall derjenige des Individuums, im anderen Falle der Gesellschaft. Beide Mythen sind aber die Nachfolger des Urmythos von Adam und Eva. Die Bibel gibt dem verbotenen Wunsch eine zentrale Bedeutung. Evas Wunsch vertreibt das erste Menschenpaar aus dem Paradies, begründet damit aber die Kultur, um den Preis der Erbsünde durch Adams Verfallenheit, die Erlösungsbedürftigkeit zur Folge hat. Das menschliche Urpaar hat allerdings, wenn wir das Wünschen genauer betrachten, eine Arbeitsteilung im Hinblick auf den verbotenen Wunsch vollzogen. Eva hat den Wunsch, der von der Schlange induziert ist, und Adam vollzieht die Handlung. Boothe sowie Boothe & Stojkovic (in diesem Band) haben zu bedenken gegeben, dass Wunsch und Intentionalität gesondert zu betrachten sind, z. B. weil es Wünsche gibt, die zwar Trost geben, aber nicht in Handlungen verwandelt werden. Dies wird oft ineins gesehen, nicht nur im Märchen sondern wegen der allgegenwärtigen Wunscherfüllungshoffnung. Sie verweisen darauf, dass auch in der Psychoanalyse die Abgrenzung von wollen und beabsichtigen vernachlässigt wird. Absicht ist ihnen zufolge antizipierend, also auf die Zukunft ausgerichtet, der Wunsch dagegen knüpft sich an Vergangenes und ist gemäß Kant ein „Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts“ (zit. n. Boothe & Stojkovic). Dem ist nicht zu widersprechen, zumal der Wunsch als Trostmittel und auch im weiteren eine unentbehrliche Rolle zur Lebensbewältigung spielt. Wünsche neigen allerdings dazu, sich in Absichten und Handlungen zu übersetzen, deren unentbehrliche Initialphantasie sie sind. Diese sind dann die Manifestationsoberflächen von Wünschen. Weil Wünsche Phantasieprodukte sind, ist das Überich das erstinstanzliche Subjekt des Verbotes. Auch für Handlungen kann das gelten, hier allerdings eher als präventives Substitut normativer, von außen kontrollierter Vorgänge. Eva hat lediglich einen von der Schlange induzierten Wunsch; erst Adams Handlung, von Evas Wunsch geleitet, setzt Gottes Verbot und Strafe in Kraft, wegen der eigenmächtigen Erkenntnis von Gut und Böse wie Gott zu werden. Es ist der Beginn einer drohenden Katastrophe, die sich die Menschen selbst einbrocken, von der Zerstörung der von Gott dem Menschen zugedachten Rolle des guten Hirten über alles Lebendige, über den „ersten Brudermord bis zur totalen Verderbtheit der Menschheit“. Erst Noahs Brandopfer bewegt Gott, mit ihm und seinen Nachkommen einen Bund zu schließen, obwohl „alles Trachten des Menschen böse von Jugend an“ ist (Wilckens 2007). Verbotene Wünsche und ihre Folgen stehen also am Anfang unseres kulturellen, biblischen Mythos, auch wenn sich durch den Opfertod Jesu Christi etwas Grundsätzliches geändert hat: im Sühnetod Christi als radikale Stellvertretung, mit dem Gottes Gnade seinen Zorn überwindet, mit der...
18. Symposion „Psychoanalyse und Altern“ Kassel 16. Dezember 2006 Konfliktstrukturen im Alter Hubert Speidel Der Major, eine der Hauptfiguren in Wilhelm Meisters Wanderjahren möchte um Hilarien werben. Er ist 50 Jahre alt, seine Angebetete ist ein junges Mädchen. (10) Es ist eine damals wie heute eher ungewöhnliche, aber mögliche Konstellation, vorausgesetzt, der Mann hat Geist, war oder ist produktiv oder körperlich gut erhalten, oder er ist reich, d.h. er hat ein gutes genetisches Potenzial und Lebenstüchtigkeit erwiesen. In der einen oder anderen Variante ist er nicht chancenlos, weil er dem genetisch verankerten Schutzbedürfnis von Frauen genügt, das heutzutage sich unter zeitgenössischem emanzipatorischem Selbstverständnis verbirgt. Insoweit haben manche Männer – auch alte und hässliche – einen systematischen Vorteil vor Frauen, deren genetisch verankertes Kapital Jugend und Schönheit und deshalb leichter verderblich sind. Aber, wie wir wissen, birgt diese scheinbare Alterschance der Männer viele Risiken und Konfliktstoffe. Männer sind oft zu verblendet, um sie zu sehen. Wenn man Männer und Frauen befragt, wo sie die Lebensmitte wähnen, sind Frauen ziemlich realistisch, Männer aber nicht. Sie antworten, als würden sie 120 Jahre alt, obwohl sie ja früher sterben als Frauen. Es ist das Ergebnis einer Umfrage meiner Hamburger Kollegin Dr. Viola Frick-Bruder unter Kollegen. (6) Männer können überdies noch zu Lebzeiten ihr Vermögen verlieren oder einem körperlichen Gebrechen verfallen und so ihre Chance einbüßen, oder sie können einem jüngeren Rivalen unterliegen. Bei Goethes Major, einer durchaus autobiographischen Figur, ging die Sache so aus: der Major verlor plötzlich einen seiner vorderen Zähne, und weiteren drohte dasselbe Schicksal; bei seinen Gesinnungen, wie Goethe schreibt, schien es ihm unmöglich, sich einer Prothese zu bedienen. (10)(18)(19) Wir verstehen dies vielleicht besser, wenn wir bedenken, dass die damalige Prothesentechnik nicht so makellose Kunstwerke erlaubte, die das Lachen vieler heutiger weißhaariger Zeitgenossen schmücken. Der Major aber hätte es unwürdig empfunden, als vom Alterszerfall sichtbar Gezeichneter seine Werbung aufrecht zu erhalten. Hier taucht beiläufig ein Entsagungsmotiv auf, dessen Bedeutung die Goethe-Forschung erst seit jüngster Zeit im biographischen Kontext würdigen kann. (8) Das Beispiel ist eine Illustration dafür, wie sich jenseits der unausweichlichen Alternsprobleme die Problemstruktur gewandelt hat. War einst der Verfall des Gebisses ein untrüglicher Ausweis des allgemeinen Verfalls und das einsetzbare Gebiss eine unvollkommene Verschleierung von Altersabbau und Attraktivitätsverlust, so hat der wundersame technische Fortschritt der Medizin nicht nur unsere Prothesengott-Illusion (5) mächtig gestärkt, sondern der mediale Umgang damit hat überdies die prothesenbezogene Beschämung reduziert, auch weil in unserer Gesellschaft generell das Schamgefühl einem mehr oder weniger schrankenlosen Exhibitionismus gewichen ist. Die Makellosigkeit der Ästhetik hat die Frage nach Naturwüchsigkeit vs. Künstlichkeit in den Hintergrund rücken lassen und eher die Assoziation der Wohlhabenheit mit der Prothese verknüpft, denn die Implantate können leicht den ökonomischen Gegenwert einer stattlichen Limousine erreichen, und diese dentale Darbietung der Saturiertheit, die den Wohlstandsembonpoint früherer Mangelgesellschaften ersetzt hat, wird ihren sozialen Mehrwert noch verstärken, wenn es der Politik gelungen sein wird, die Privatversicherungen zu ruinieren und die Poverté der Bürgerversicherung zu etablieren, die Ärzte, Pharmaforschung und Versorgungskomfort in einer ineffizienten Staatsmedizin vergerechtigt haben wird. Die technische Medizin, die wir einst mit der phasen- und zeitgemäßen Arroganz junger Psychosomatiker als subhuman diskreditiert haben, bereitet der vergreisenden Gesellschaft eine Fülle funktions- und jugendlichkeitserhaltender humaner Errungenschaften, die in der Gemengelage sozialer Jugendlichkeitsanforderung und schwindender Jugend den Alternden Jugendersatz, verlängerte Jugend, Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit und damit die vom Zeitgeist erforderte Würde der gesellschaftlichen Zugehörigkeit diesseits der Ghettos der Seniorenpaläste verleihen. Frauen können mit hormoneller Hilfe und chirurgischer Kunst Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit erhalten, und dies ist wegen der Brüchigkeit der Beziehungen notwendig, die es ihnen nicht mehr erlaubt, im glücklichen familiären Gefüge zu Matronen heranzureifen. Männer können sich mit Hilfe von Sildenafil und Vardenafil im Stande der erotischen Werbungs- und Konkurrenzfähigkeit halten. Der trübe Blick des Katarakts lässt sich mit Kunstlinsen beheben, am und im Ohr tragen wir raffinierte, sich selbst regulierende Mini-Computer, die uns vor sozialer Isolation bewahren, die Gelenke sind durch ein kunstvolles Stück Unsterblichkeit ersetzbar, der Blutdruck ist überlebenshaltig regulierbar, das Podagra ist medikamentös zu vermeiden; die Herzkranzgefäße sind durch einen Stent oder durch Autotransplantate zeitweise stabilisierbar, die hängenden Augenlider lassen sich verjüngen, um nur einige der diskreten Manipulationen an unserem Erscheinungsbild, Funktionszustand und sozialem Angebotspotential zu nennen. Den Möglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt. Solche medizinischen Wunderdinge können unser Leben verlängern, uns zeitweilig das der Medizin immanente Unsterblichkeitsversprechen zu unserer Illusion werden lassen, entsprechend Canetti´s Ergänzung der feldherrlichen Frage des Großen Kurfürsten. „Kerls, wollt ihr ewig leben?“ Canetti`s Antwort: „Ja“. (2) Wir können Erleichterungen unserer körperlichen Gebrechen verspüren, aber auch von Unternehmungen und Eroberungen träumen und sie sogar verwirklichen. So mischen sich, mehr als in einer früheren Ära, in der Entbehrungen und Gebrechen noch unerbittlichere Begleiter unseres Lebens waren, in uns die Lebensalter, das Zeitgemäße und das Unzeitgemäße, genauer: wir sind ungewiss über das Angemessene und Unangemessene, und oft fahren wir wie mit dem Fahrtsuhl durch die Geschosse unseres inneren historischen Gebäudes. Natalia Ginzburg beschreibt diesen ungewissen inneren Ort so: „Wir bewahren noch lange die Gewohnheit zu glauben, dass wir ‚die Jungen‘ unserer Zeit sind, so dass wir, wenn wir jemanden von ‚Jungen‘ sprechen hören, den Kopf wenden, als spräche man von uns. Eine Gewohnheit, die so tief verwurzelt ist, dass wir sie vielleicht erst ablegen werden, wenn wir ganz zu Stein geworden sind, d.h. am Vorabend unseres Todes.“ (9) Das männliche Pendant beschreibt Michel Leiris: „Während der letzten Tage hatte ich schon ein sehr seltsames Spiel gespielt – etwas, das ich jetzt mit einer sonderbaren...