18. Symposion
„Psychoanalyse und Altern“
Kassel
16. Dezember 2006
Konfliktstrukturen im Alter
Hubert Speidel
Der Major, eine der Hauptfiguren in Wilhelm Meisters Wanderjahren möchte um Hilarien werben. Er ist 50 Jahre alt, seine Angebetete ist ein junges Mädchen. (10) Es ist eine damals wie heute eher ungewöhnliche, aber mögliche Konstellation, vorausgesetzt, der Mann hat Geist, war oder ist produktiv oder körperlich gut erhalten, oder er ist reich, d.h. er hat ein gutes genetisches Potenzial und Lebenstüchtigkeit erwiesen. In der einen oder anderen Variante ist er nicht chancenlos, weil er dem genetisch verankerten Schutzbedürfnis von Frauen genügt, das heutzutage sich unter zeitgenössischem emanzipatorischem Selbstverständnis verbirgt. Insoweit haben manche Männer – auch alte und hässliche – einen systematischen Vorteil vor Frauen, deren genetisch verankertes Kapital Jugend und Schönheit und deshalb leichter verderblich sind.
Aber, wie wir wissen, birgt diese scheinbare Alterschance der Männer viele Risiken und Konfliktstoffe. Männer sind oft zu verblendet, um sie zu sehen. Wenn man Männer und Frauen befragt, wo sie die Lebensmitte wähnen, sind Frauen ziemlich realistisch, Männer aber nicht. Sie antworten, als würden sie 120 Jahre alt, obwohl sie ja früher sterben als Frauen. Es ist das Ergebnis einer Umfrage meiner Hamburger Kollegin Dr. Viola Frick-Bruder unter Kollegen. (6) Männer können überdies noch zu Lebzeiten ihr Vermögen verlieren oder einem körperlichen Gebrechen verfallen und so ihre Chance einbüßen, oder sie können einem jüngeren Rivalen unterliegen.
Bei Goethes Major, einer durchaus autobiographischen Figur, ging die Sache so aus: der Major verlor plötzlich einen seiner vorderen Zähne, und weiteren drohte dasselbe Schicksal; bei seinen Gesinnungen, wie Goethe schreibt, schien es ihm unmöglich, sich einer Prothese zu bedienen. (10)(18)(19) Wir verstehen dies vielleicht besser, wenn wir bedenken, dass die damalige Prothesentechnik nicht so makellose Kunstwerke erlaubte, die das Lachen vieler heutiger weißhaariger Zeitgenossen schmücken. Der Major aber hätte es unwürdig empfunden, als vom Alterszerfall sichtbar Gezeichneter seine Werbung aufrecht zu erhalten. Hier taucht beiläufig ein Entsagungsmotiv auf, dessen Bedeutung die Goethe-Forschung erst seit jüngster Zeit im biographischen Kontext würdigen kann. (8) Das Beispiel ist eine Illustration dafür, wie sich jenseits der unausweichlichen Alternsprobleme die Problemstruktur gewandelt hat. War einst der Verfall des Gebisses ein untrüglicher Ausweis des allgemeinen Verfalls und das einsetzbare Gebiss eine unvollkommene Verschleierung von Altersabbau und Attraktivitätsverlust, so hat der wundersame technische Fortschritt der Medizin nicht nur unsere Prothesengott-Illusion (5) mächtig gestärkt, sondern der mediale Umgang damit hat überdies die prothesenbezogene Beschämung reduziert, auch weil in unserer Gesellschaft generell das Schamgefühl einem mehr oder weniger schrankenlosen Exhibitionismus gewichen ist. Die Makellosigkeit der Ästhetik hat die Frage nach Naturwüchsigkeit vs. Künstlichkeit in den Hintergrund rücken lassen und eher die Assoziation der Wohlhabenheit mit der Prothese verknüpft, denn die Implantate können leicht den ökonomischen Gegenwert einer stattlichen Limousine erreichen, und diese dentale Darbietung der Saturiertheit, die den Wohlstandsembonpoint früherer Mangelgesellschaften ersetzt hat, wird ihren sozialen Mehrwert noch verstärken, wenn es der Politik gelungen sein wird, die Privatversicherungen zu ruinieren und die Poverté der Bürgerversicherung zu etablieren, die Ärzte, Pharmaforschung und Versorgungskomfort in einer ineffizienten Staatsmedizin vergerechtigt haben wird.
Die technische Medizin, die wir einst mit der phasen- und zeitgemäßen Arroganz junger Psychosomatiker als subhuman diskreditiert haben, bereitet der vergreisenden Gesellschaft eine Fülle funktions- und jugendlichkeitserhaltender humaner Errungenschaften, die in der Gemengelage sozialer Jugendlichkeitsanforderung und schwindender Jugend den Alternden Jugendersatz, verlängerte Jugend, Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit und damit die vom Zeitgeist erforderte Würde der gesellschaftlichen Zugehörigkeit diesseits der Ghettos der Seniorenpaläste verleihen. Frauen können mit hormoneller Hilfe und chirurgischer Kunst Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit erhalten, und dies ist wegen der Brüchigkeit der Beziehungen notwendig, die es ihnen nicht mehr erlaubt, im glücklichen familiären Gefüge zu Matronen heranzureifen. Männer können sich mit Hilfe von Sildenafil und Vardenafil im Stande der erotischen Werbungs- und Konkurrenzfähigkeit halten. Der trübe Blick des Katarakts lässt sich mit Kunstlinsen beheben, am und im Ohr tragen wir raffinierte, sich selbst regulierende Mini-Computer, die uns vor sozialer Isolation bewahren, die Gelenke sind durch ein kunstvolles Stück Unsterblichkeit ersetzbar, der Blutdruck ist überlebenshaltig regulierbar, das Podagra ist medikamentös zu vermeiden; die Herzkranzgefäße sind durch einen Stent oder durch Autotransplantate zeitweise stabilisierbar, die hängenden Augenlider lassen sich verjüngen, um nur einige der diskreten Manipulationen an unserem Erscheinungsbild, Funktionszustand und sozialem Angebotspotential zu nennen. Den Möglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt.
Solche medizinischen Wunderdinge können unser Leben verlängern, uns zeitweilig das der Medizin immanente Unsterblichkeitsversprechen zu unserer Illusion werden lassen, entsprechend Canetti´s Ergänzung der feldherrlichen Frage des Großen Kurfürsten. „Kerls, wollt ihr ewig leben?“ Canetti`s Antwort: „Ja“. (2) Wir können Erleichterungen unserer körperlichen Gebrechen verspüren, aber auch von Unternehmungen und Eroberungen träumen und sie sogar verwirklichen. So mischen sich, mehr als in einer früheren Ära, in der Entbehrungen und Gebrechen noch unerbittlichere Begleiter unseres Lebens waren, in uns die Lebensalter, das Zeitgemäße und das Unzeitgemäße, genauer: wir sind ungewiss über das Angemessene und Unangemessene, und oft fahren wir wie mit dem Fahrtsuhl durch die Geschosse unseres inneren historischen Gebäudes.
Natalia Ginzburg beschreibt diesen ungewissen inneren Ort so: „Wir bewahren noch lange die Gewohnheit zu glauben, dass wir ‚die Jungen‘ unserer Zeit sind, so dass wir, wenn wir jemanden von ‚Jungen‘ sprechen hören, den Kopf wenden, als spräche man von uns. Eine Gewohnheit, die so tief verwurzelt ist, dass wir sie vielleicht erst ablegen werden, wenn wir ganz zu Stein geworden sind, d.h. am Vorabend unseres Todes.“ (9) Das männliche Pendant beschreibt Michel Leiris: „Während der letzten Tage hatte ich schon ein sehr seltsames Spiel gespielt – etwas, das ich jetzt mit einer sonderbaren Partie Blindekuh vergleichen würde. Was war ich denn, wenn nicht ein fast 60-jähriger Cherubino, den der Anblick jeder begehrenswerten Frau um den Verstand bringt, der aber im Gegensatz zu Cherubino nicht beim ersten Waffengang, sondern bei den letzten Patronen angelangt ist.“ (15)
Mit dem Alter altern nicht gleichermaßen die Phantasien, und mit dem Wechsel der inneren Zustände, der für ältere Menschen mit ihrer verringerten Spannkraft charakteristisch ist, wechseln die Lebenszeitalter oft schwindelerregend zwischen Puerilität und Greisenhaftigkeit. „Man ist eben mit seinem eigenen Alter leider nicht immer auf einer Stufe, man eilt ihm innerlich voraus, und noch öfter bleibt man hinter ihm zurück – das Bewusstsein und Lebensgefühl ist dann weniger reif als der Körper, wehrt sich gegen dessen natürliche Erscheinungen und verlangt etwas von sich selber, was es nicht leisten kann“, lesen wir bei Hermann Hesse. (12) Oder bei Jean Paul: „Alle Glieder veralten beim Menschen, aber doch nicht das Herz. Mit jedem Jahr werde ich meines jünger und weicher schreiben.“ (13)
Dieser Wechsel der Lebenszeitalter kann keine Sicherheit schaffen. Sie muss aus anderen Quellen gespeist werden. Wovon hier vorläufig die Rede ist, und wofür ich das Bild der Fahrstuhlfahrt durch das Lebenshaus benützt habe, kann man als die vertikale Schichtung des Lebensgefühls benennen. Sie ist mit dem Vitalitätszustand, aber auch mit der Verfügbarkeit der Erfahrungen verknüpft. Letztere sind mit dem Lebensablauf verbunden unterschiedlich und reich, erstere dem biologischen Alter geschuldet.
Es gibt ein schönes Gedicht von Berthold Brecht, das diesen Zustandswechsel poetisch erfasst. (1) Es heißt
Wechsel der Dinge
I
Und ich war alt, und ich war jung zu Zeiten
War alt am Morgen und am Abend jung
Und war ein Kind, erinnernd Traurigkeiten
Und war ein Greis ohne Erinnerung
II
War traurig, wenn ich jung war
Bin traurig, nun ich alt.
So, wann kann ich mal lustig sein?
Es wäre besser bald.
Psychoanalytisch gesprochen habe ich meine Erörterungen auf dem Niveau der Triebpsychologie und des Narzißmus gehalten, und wir haben dabei gesehen, dass die Labilität der Verfassungen das Alter kennzeichnet. Aber das ist eine einseitige Sicht, weil sie die stabilisierenden Faktoren, strukturpsychologisch formuliert, die Talente des Ich, die sozialen Regulierungen durch das Überich und die orientierungsleitenden Mächte des Ichideals außer Acht lässt. In Kiel, wo jeder, der etwas auf sich hält, ein Segelboot hat, ist man geneigt, das Lebensschiff als Metapher zu benützen, das zwar im Alter weniger getrieben als gebeutelt, des stabilisierenden Kiels, oder, falls man eher an ein Passagierschiff denkt, der Stabilisatoren, und natürlich in beiden Fällen des Ruders bedarf.
Nun sind diese regulatorischen Instanzen keine Garantie gegen das Scheitern des Lebensplanes und gegen Depression und Verzweiflung. Schließlich kann man auf falschem Kurs sein und in Sandbänken auflaufen oder an Felsblöcken leckschlagen. Die Verhältnisse sind kompliziert. In Lichtenbergs Sudelbüchern lesen wir: „Das Alter (Zahl der Jahre) macht klug, das ist wahr, dieses heißt aber nichts weiter als Erfahrung macht klug. Hingegen Klugheit macht alt (d.h. Reue, Ehrgeiz, Ärger macht die Backen einfallen, die Haare grau, und ausfallen) ist nicht minder wahr. Diese täglichen Lehren mit Züchtigungen, zwar nicht auf den Arsch, aber an gefährlicheren Teilen eingeschärft, sind wahres Gift.“ (13)
Letzten Endes sind körperlicher und geistiger Verfall, schließlich das Sterben, die unkalkulierbaren Bedrohungen, die unser Lebensglück im Alter zunehmend auf Abruf stellen. Dagegen hilft auf lange Sicht nichts, aber unsere Bemühungen zur Abwehr der Bedrohung werden zum Bestandteil unserer Handlungsfreiheit und Stimmungsstabilität.
Eine der wirkungsvollsten Stabilisatoren ist die Hypochondrie, das Leuchtfeuer der vitalen Gefahrenabwehr. Wer hypochondrisch ist, lebt und kann sich unter Zuhilfenahme von Gastroenterologen, Kardiologen, Gynäkologen und Urologen jeweils vorübergehend eine mehr oder weniger weitreichende Gefahrenfreiheitszone in den Zukunftshorizont projizieren. Wenn wir Montaignes Beschreibung der Bäder von Lucca lesen, so wird hier das Leben zur Verdauungsregulierung. (17)
Man kann sich stattdessen auch auf einen höheren Sublimierungsrang verfügen und das Leben mit dem Abstand betrachten, der vor Angst und Schrecken schützt. Marie Luise Kaschnitz beschreibt dies so: „… ich weiß, dass ich sterben werde, aber wie in einer Todeszelle fühle ich mich nicht, Ich höre die wilden heftigen Geräusche des Lebens und spüre die Sonne und den Eisregen auf der Haut. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.“ (14)
Anstelle dieses Abstandes vom Leben lässt sich paradoxerweise eine tiefe Verstrickung mit dem Materiellen zur Todesangstabwehr nutzen, wenn die Materie der Träger von Kunst und Literatur, also von Unsterblichem ist. Sie werden zur Projektionsmasse der Unsterblichkeitswünsche, und so mag die Menge der versammelten Kunst und Literatur zum Maß der abgewehrten Todesangst taugen.
Der Schwund der Kräfte erfolgt langsam, unmerklich oft, und deshalb ist die Adaptation an die Kräfteverhältnisse oft schwierig. Die Überprüfung kann an Herausforderungen erfolgen, die bestätigend oder eine Blamage sein können, aber die Fähigkeiten durch Übung lang erhalten mögen. Das wusste schon Cicero, der in „Cato maior de senectute“ sagt: „Man soll jedoch nicht nur den Körper stärken. Sondern noch viel mehr die Denkkraft, den Geist. Denn auch die Geisteskräfte schwinden im hohen Alter, falls man nicht, wie bei einer Lampe, Öl nachträufelt. Körperlich wird man durch laufende Überanstrengung schwerfällig, der Geist aber wird nur dadurch frisch erhalten, dass man ihn betätigt.“ (3)(18)
Wie schwer das oft ist, davon schreibt Theodor Fontane in seinem Todesjahr an seine Frau Emilie (20.09.1898): „… man arbeitet am Trapez immer weiter und leistet dasselbe wie andre, aber es fehlt – einzelne Momente abgerechnet – wo einen ein Witz oder eine Skandalgeschichte erheitert – die rechte Freudigkeit, weil die Kräfte nicht ausreichen -. Das prädominante Gefühl bleibt doch immer: ‚Lägst du nur erst wieder im Bett‘.“ (4)
Die größte Herausforderung ist die Rivalität mit der nächsten Generation. Max Frisch schreibt in seinen Notizen für einen Anwärter: „Treibt er Sport (beispielsweise Ski), so ertappt sich der Vor-Gezeichnete dabei, daß er, wenn Junge zugegen sind, schneller fährt, als er eigentlich Lust hat.“ (7)
Solche milden Formen des Laios-Komplexes können den Älteren, die unausweichlich mit ihrem Positions- und Statusverlust zu kämpfen haben, den wünschenswerten Respekt der Jüngeren verschaffen, aber es ist eine heikle Situation, die den Älteren eine subtile Balance zwischen Narzißmus und Demut abverlangt und am besten gelingt, wenn die Angehörigen der nächsten Generation wie Söhne und Töchter erlebt werden können, denen man das Beste wünscht, aber zum einen können Ältere nicht immer die Rivalität mit den Söhnen und Töchtern durch eine positive Identifikation mit ihnen ersetzen, zum anderen lassen sich nicht alle Jüngeren wie Söhne und Töchter erleben, auch, weil, wie Hermann Hesse sagt, „die Generationen unterschiedliche Sprachen sprechen.“ (12) Erweist sich die Macht der Älteren als altersresistent und rivalisieren sie gar noch erfolgreich um dieselbe Frau, wie Philipp II., so ruinieren sie ihre Söhne und damit ihre eigene Unsterblichkeit, wahren sie nicht Würde und Respekt, so liefern sie sich deren Mangel und dem depressiven Rückzug aus.
Viele Beschwernisse sind in der Generation der jetzt Alten oft auch in den schweren Traumatisierungen durch Kriegs-, Verfolgungs- und Vertreibungsschicksal begründet, die nicht selten virulent werden, wenn ein körperliches Gebrechen, z. B. ein Herzinfarkt, den psychischen Abwehrapparat geschwächt hat. Weniger dramatisch, aber eine wirksame Quelle für Depression ist die Bilanzierung gegen Ende des Lebens, ein falsches Leben gelebt zu haben.
Eine kategorial andere Art von Konflikten, die wir die horizontale Perspektive nennen könnten, ergibt sich aus unserer Teilhabe an langfristigen, wechselnden politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen, die in uns schichtartig oder auch in erratischen Komplexen angelegt ist, uns bewusst oder unbewusst beeinflussen, und deren Bestandteil wir sind.
Eine grundlegende Kategorie von Konflikten älterer Menschen entsteht 1. durch die Abnahme kognitiver Qualitäten; die braucht man aber, um Erfahrungen zu bewerten. Man vergisst im Alter Namen und wird dadurch sozial unsicherer, die funktionalen Befindlichkeiten verlieren an Prägnanz, auch weil sie nicht mehr im Tagesgeschäft geschärft werden, die begriffliche Erinnerungsfähigkeit ist weniger prompt und zuverlässig, und 2. durch die Abnahme an Macht mit dem Rückzug aus öffentlichen Funktionen.
Dem steht die Fülle der Lebenserfahrung gegenüber, die dessen Träger kostbar ist, und von der er hoffen mag, dass sie auch seiner Umgebung kostbar sein müsste, obzwar sie, was er oft nicht richtig einschätzt, aus veralteten gesellschaftlichen Bedingungen stammt, deshalb an praktischem Wert und vor allem an öffentlicher Anerkennung verliert. Dieses Dilemma ist eine zuverlässige Quelle des Zorns, der tunlichst durch gute familiäre und Freundschaftsbeziehungen ausbalanciert werden sollte, damit alte Leute nicht, was oft geschieht, für ihre Umgebung unerträglich werden. Um dies zu vermeiden ist eine gute soziale Situation geeignet, denn bei guter psychischer Konstitution und günstiger Gesundheit sind ältere Menschen umgänglicher, verlässlicher und emotional stabiler als jüngere.
Letzen Endes, nicht zu früh, aber rechtzeitig, wenn es die Umstände erlauben, muss der große Abschied bedacht und geregelt werden, und – das ist das Schwerste – in Würde mit und von den Angehörigen geschehen.
Wie schwer die Verabschiedung von Leben sein kann, davon handelt das Grimmsche Märchen
Die Lebenszeit
Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte: „Herr, wie lang soll ich leben?“ – „Dreißig Jahre“, antwortete Gott, „ist dir das recht?“ – „Ach, Herr“, erwiderte der Esel, „das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: vom Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! Erlaß mir einen Teil der langen Zeit.“ Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. „Wie lange willst du leben?“ sprach Gott zu ihm, „Dem Esel sind dreißig Jahre zuviel du aber wirst damit zufrieden sein.“ –„Herr“, antwortete der Hund, „ist das dein Wille? Bedenke was ich laufen muß, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?“ Gott sah, daß er Recht hatte und erließ ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. „Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?“ sprach der Herr zu ihm, „du brauchst nicht zu arbeiten wie der Esel und der Hund und bist immer guter Dinge.“ – „Ach, Herr“, antwortete er, „das sieht so aus, ist aber anders. Wenn`s Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus.“ Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre.
Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. „Dreißig Jahre sollst du leben“, sprach der Herr, „ist dir das genug?“ „Welch eine kurze Zeit!“ rief der Mensch, „wenn ich mein Haus gebaut habe und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt; wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben? Oh Herr, verlängere meine Zeit!“ – „Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen“, sagte Gott. „Das ist nicht genug“, erwiderte der Mensch. „Du sollst auch die zwölf des Hundes haben.“ – „Immer noch zu wenig.“ – „Wohlan“, sagte Gott, „ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.“ – Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.
Also lebte der Mensch siebenzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der anderen auferlegt; er muß das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahres des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder. (11)
Literatur
1. Brecht B (1967) Wechsel der Dinge. Ges. Werke IV. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
2. Canetti E (1973) Kerls, wollt ihr ewig leben? Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen
1942-1971. Carl Hanser, München
3. Cicero MT (1980) Cato Maior de senectute. 2. Aufl. Heimeran, München
4. Fontane T (1898) Brief an Emilie, 20.IX. In: Reuter HH, Theodor Fontane. Von Dreißig
bis Achtzig. Sein Leben in Briefen. Nymphenburger Verlagsanstalt, München
5. Freud S (1930) Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 41-506. Imago Publ. London
1955
6. Frick-Bruder V Persönliche Mitteilung
7. Frisch M (1976) Notizen zu einem Handbuch für Anwärter. XI. Bd. Suhrkamp, Frankfurt
a.M.
8. Ghibellino E (2012) J.W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe. 4. Aufl. AJ
Denkena, Weimar
9. Ginzburg N (1972) Das Alter. Akzente Zeitschrift für Literatur, Heft 3
10. Goethe JW (1989) Wilhelm Meisters Wanderjahre. Sämtliche Werke, Frankfurter Ausga-
be, Abt. II, Bd. II. Frankfurt a.M.
11. Grimm J u. W (1973) Kinder- und Hausmärchen. Insel, Frankfurt a.M.
12. Hesse H (1972) Im Älterwerden (Briefe). In: Michels V (Hrsg) Lektüre für Minuten. Bd. VII
13. Paul J (1971) Selbstbeschreibung. Konjektural-Biographie. Reclam Universalbibliothek
Nr. 7940/41. Reclam, Stuttgart
14. Kaschnitz ML (1973) Orte. Erzählungen. Insel, Frankfurt a.M.
15. Lichtenberg GC (1968) Schriften und Briefe. II.Bd.: Sudelbücher. Carl Hanser, München
16. Leiris M (1974) Der Soneryl-Streich. Neue Rundschau, 2. Heft
17. Montaigne M de (2002) Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutsch-
land von 1580 bis 1581. Eichborn, Frankfurt a.M.
18. Speidel H (2005) Alter als Hoffnungsperspektive. In: Boothe B, Ugolini B (Hrsg) Lebens-
horizont Alter. v/d/f Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 2. Aufl., S. 219-241
19. Speidel H (2005) Der fordernde Patient. Kommunikation und Kommunikationsstörungen.
ZMK 21, S. 572-578