Psychoanalytisches zum Rätsel von Goethes Lida-Gedichten (2012)*
In der reichhaltigen Lyrik der ersten zehn Weimarer Jahre Goethes gibt es eine Reihe von kleinen Gelegenheitsgedichten, die sich mit Frauen aus Goethes Umgebung beschäftigen, z. B. mit Gustgen, Fräulein v. Stein, Fräulein v. Waldner, Frau v. Werthern, Caroline Ilten, Herzogin Luise, Mamms. Schröter, Fräulein Nostitz, Fietgen, Fräulein Volgstedt, Malchen Hendrich, Fräulein Reinbaben, Anngen Müllern, Fräulein Göchhausen, Fräulein v. Oppel, Frau v. Witzleben, Gräfin Giannini, Frau v. Oertel, Frau v. Felgenbauer, Fräulein v. Wöllwarth, Frau v. Lichtenberg.
Es sind poetische Persönlichkeitsskizzen, die mit wenigen Strichen prägnant charakterisieren, ehrerbietig wie bei Herzogin Luise, Auguste zu Stolberg und Frau v. Witzleben, liebevolle (Fietgen, Fräulein v. Oppel, Gustgen, Frau v. Felgenbauer, Frau v. Oertel), ironische (Fräulein Reinbaben, Frau v. Werthern, Frau v. Lichtenberg), auch leicht karikierende (Fräulein Nostitz), solche mit erotischem Beiklang (Mamms. Schröter, Anngen Müllern), pädagogische (Fräulein v. Stein), mahnend-tadelnde (Malchen Hendrich). Anna Amalia kommt hier namentlich wie in allen anderen Gedichten der zehn ersten Weimarer Jahre nicht vor, dagegen Frau v. Stein mit folgenden Zeilen:
Du machst die Alten jung die Jungen alt
Die Kalten warm, die Warmen kalt
Bist ernst im Scherz, der Ernst macht dich zu lachen,
Dir gab auf´s menschliche Geschlecht
Ein süßer Gott sein längst bewährtes Recht
Aus Weh ihr Wohl, aus Wohl ihr Weh zu machen.
Was für eine Persönlichkeit wird uns hier geschildert? Goethe beschreibt sie als eine komplizierte, im Umgang schwierige, weil in ihren Reaktionen
*In: Hubert Speidel: Beiträge zu Goethe und Anna Amalia (2006-2012), Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar, Dr. A.J. Denkena Verlag, Weimar, 1. Aufl. 2012, S. 7-24
unvorhersehbare, unberechenbare Persönlichkeit voller Gefühlsambivalenz.
Sie wird als emotional und wohl auch materiell Versorgende, aber Gefühl und Humor Mäßigende, gar Verhindernde beschrieben. Es ist vor allem eine Person, die Nähe und Leidenschaft nicht verträgt, und Goethe beantwortet diese Distanz mit ironischer Distanzierung: „Ein süßer Gott ….“ Es ist derselbe ironisch-distanzierte Ton, den Goethe, durchaus wohlwollend, in einem Brief an Carl Ludwig v. Knebel anschlägt: „Die Stein hält mich wie ein Korkwams über dem Wasser, daß ich mich auch mit Willen nicht ersäufen könnte“(8). Ähnlich distanziert gegenüber Goethe ist Charlotte v. Stein in ihren Briefen an Knebel, wenn sie wiederholt seine literarischen Produkte kritisiert.
Es ist nicht der Ton zwischen Liebenden und nicht der hohe Ton der Liebesgedichte Goethes aus seinem ersten Weimarer Jahrzehnt. Karl Eibl, der Goethes Gedichte in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts herausgegeben hat (1; 2), ahnt zwar etwas von der Rätselhaftigkeit der Beziehung zwischen Goethe und Charlotte v. Stein, wenn er schreibt: „Die ganze Tiefe der Beziehung zu Charlotte v. Stein konnten selbst die Freunde nur ahnen. In Goethes vielfältigen Bekenntnissen kommt sie nicht vor, und auch von Eckermann oder anderen Gesprächspartnern werden keine auf sie bezüglichen Äußerungen überliefert“ (1, S. 953). Weil er aber wie fast alle seiner Kollegen und fast alle an Goethe Interessierten an die Liebesbeziehung zwischen Goethe und Frau v. Stein glaubt(e), stellt er die Gedichte „Meine Göttin“, „Der Becher“, „Du machst die Alten jung, die Jungen alt“ und „Der vierte Teil meiner Schriften“ nebeneinander und kommentiert: „Die chronologische Anordnung der Gedichte mit ihrem Nebeneinander von gereimten Gelegenheitsscherzen, Augenblicksimpressionen und Versuchen, das Rätsel dieser Liebe poetisch zu ergründen, kann in ihrem Kunterbunt etwas von der Spannweite dieser Beziehung vermitteln“ (1, S. 957).
Es ist ein Beispiel dafür, dass die Briefe Goethes an Charlotte v. Stein seit ihrer Veröffentlichung durch Adolf Schöll 1848-1851 nicht, wie allgemein angenommen, in einem Erkenntnissprung, sondern in einem Glauben, einer Ideologie mündete, die, wie wir es auch aus der Politik kennen, so festgefügt ist, wie Wissenschaft, wäre sie wirksam, gar nicht werden könnte.
Vor der Veröffentlichung dieses Konvoluts war man weiter: Ettore Ghibellino zitiert Victor Hehn, der 1848 schrieb, Goethes Geliebte „gehört der höheren Region an, so viel ist gewiß.“ Hehn schrieb von „fürstliche[r] Geliebte[n]“, von „hohe[r] Geburt“, „Reichtum und persönliche[n] Eigenschaften der Schönheit und Lieblichkeit“ (3, S.132). Er wusste zwar nicht, wer Goethes Geliebte war, aber er las genau und war noch nicht von dem ideologischen Sog der Briefe geblendet. Wenn man bedenkt, dass die Auswahl der nach seinem Steckbrief in Frage kommenden Frauen in dem kleinen Land äußerst gering war, sozusagen n=1, so war ihm der nächste Schritt vielleicht nur verwehrt, weil die schiere Erwähnung Anna Amalias derzeit ein Sakrileg gewesen wäre. Schließlich war Marie Antoinette entehrt und Struensee gevierteilt (vgl. 3). Wenn wir im Jahr 2012 im Internet nach den Frauen um Goethe suchen, so sind sie alle säuberlich aufgezählt. Anna Amalia, mit der Goethe so viel öffentliches Leben teilte, kommt nicht vor. Das Sakrileg überdauert, und die große sowie die kleinen Weimarer Nachbargesellschaften samt Fremdenführern wachen darüber.
Betrachten wir die Zitate aus den Knebel-Korrespondenzen und stellen sie neben das zitierte Ambivalenzgedicht, so bilden sie einen gemeinsamen Beziehungsstil ab, der durch eine gegenseitige kritische Distanz gekennzeichnet ist. Von hier aus gibt es keine emotionale Brücke zu den Liebesgedichten derselben Ära. Es gibt auch keine gedankliche Brücke, die es gestatten würde, sich die Empfängerin der zitierten Verse und der Liebesgedichte als ein und dieselbe Person vorzustellen. Eibl hat zwar von der „Spannbreite“ der in den Gedichten dieser Zeit vorkommenden Inhalte, Gestimmtheiten und Beziehungsformen gesprochen, aber er steht konzeptionell in den Fesseln einer Vorannahme, die ihn sogar zu einer Fehlleistung verleitete: er kennt keine Äußerung Goethes über Frau v. Stein, obwohl er selbst das zitierte Gedicht erwähnt. Es ist allerdings keines der Liebesgedichte, in denen alles vorkommt, was zur Liebe gehört. Vielmehr erzählt es von einer Person, die eine erotische Beziehung kaum zulassen würde, wohl aber Caritas pflegen könnte. Das hat sich am Beispiel Schillers im Spiegel der Briefe Charlotte v. Steins an ihr Patenkind Charlotte v. Lengefeld, verh. Schiller gut belegen lassen (8).
Goethes Liebesgedichte der ersten zehn Weimarer Jahre sind aber ohne innere Distanz zu dem Objekt seiner Liebe. Ihre Ambivalenz ist die zwischen Hoffnung und Sorge, einer für Goethe charakteristischen Gefühlspolarität, nicht eine der Reaktion auf die Gefühlsambivalenz des Objektes seiner Liebe. Diese enthält zwar das Element der Idealisierung, einem Ingrediens jederVerliebtheit: die Frau, die Goethe mit seinen Gedichten anspricht, hat die sozialen Merkmale, die Viktor Hehn einst entdeckte. Sie wird zur Göttin und zur älteren von zwei Töchtern Jovis, aber sie enthält auch die Merkmale irdischer Liebe: sexuelles Begehren und sexuelle Erfüllung, Zweifel und Selbstzweifel, Verlustangst, Eifersucht. Vor allem spiegelt sie die Entwicklung einer Liebe, die einer Einzigen gilt.
Bei Betrachtung des uns überlieferten Materials läßt sich die Entwicklung der Liebesbeziehung mit den Gedichten aus den Briefen „an Frau v. Stein“ verfolgen. Hier können wir eine Phase des Beginns mit Ungewissheit, Zweifeln, vor allem an der Zulässigkeit der Liebe, von einer Phase der Konsolidierung der Beziehung und ihrer Glücksmomente unterscheiden. In der Gedichtsammlung von Eibl (1; 2) wird der zeitliche Ablauf und mit ihm die Entfaltung der Liebesbeziehung zu der Person, für welche die rätselhafte Namenbezeichnung „Lida“ steht, deutlicher als in der systematischen Gliederung der Hamburger Ausgabe, in der auch das Bild Goethes für die erste Weimarer Zeit im Sinne der Sublimierung und Vergeistigung unter dem Einfluß der Vorstellung einer rein seelischen Beziehung zu Frau v. Stein verstanden wird. Frau v. Stein hat dieses Beziehungsbild in ihrer Version von Goethes Gedicht „An den Mond“ formuliert: „Selig, wer sich vor der Welt/Ohne Haß verschließt,/Seine Seele rein erhält,/Ahndungsvoll genießt“. Es ist eine geistige, keine physische Seligkeit. Das analoge Goethebild dieser Ära muß vertreten, wer an Frau v. Stein als Empfängerin von Goethes Liebesgedichten glaubt, die als „Lida-Verse“ subsumiert werden.
Dieser Glaube, der natürlich in den Gedichten durchaus auch seine Argumente finden und seine historisch-poetologische Abstützung im Barock und Minnesang erfahren kann (5, S. 538), muß aber die Triebsphäre des lebenden Menschen völlig außer Acht lassen. Wie viel unvoreingenommener und uneingeengter die Gedichte und der dazugehörige Mensch und Autor betrachtet werden können, wenn Frau v. Stein nicht den Interpretationsrahmen geben muß, zeigt die Arbeit von Wilhelm Solms: „Das Bild der Geliebten in Goethes Versen von Lida“ (6).
Welche Gedichte als zu den Lida-Versen gehörig angesehen werden, wird unterschiedlich beurteilt. In der Hamburger Ausgabe (5) sind es siebzehn, bzw., wenn man Zweitversionen von zwei Gedichten extra notiert, neunzehn Gedichte. In meiner Notation, die der Eibl´schen Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ (1) folgt, sind es 55, die ich im Folgenden aber nicht vollständig würdigen kann. Bei Solms (6) sind es zwei Gedichte weniger, weil er in zwei Fällen den Zusammenhang für ungeklärt hält. Es ist also nicht ganz eindeutig, was ohne die genaue Kenntnis von inhaltlichen Bedeutungen und situativen Zusammenhängen als dazugehörig angesehen werden kann. Diesen Anspruch außer Acht lassend versuche ich anhand meiner, der Eibl´schen, im Wesentlichen zeitlich orientierten Ausgabe folgenden Auswahl, die Entwicklung der Liebesbeziehung und ihrer Themen darzustellen.
Wanderers Nachtlied
Der du von dem Himmel bist
Alle Freud und Schmerzen stillest,
Den der doppelt elend ist
Doppelt mit Erquickung füllest.
Ach ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual und Lust.
Süßer Friede,
Komm ach komm in meine Brust!
Das erste der Gedicht aus den Briefen an „Frau v. Stein“ berichtet vom schwierigen Beginn einer Liebesbeziehung. Es ist von „Freud und Schmerzen“, von „Qual und Lust“ die Rede. Wir erfahren aber nicht, ob Qual und Lust (vorläufig) sich nur in der schmerzvollen Phantasie des Dichters abspielt. Die Adressatin von „Freud und Schmerzen“ wird dagegen daran kenntlich, dass das Gedicht – das erste von zweien dieses Titels – am 12. Februar 1776 in der winterlichen Kälte am Hang des Ettersbergs verfasst wurde, wo zu der Zeit bekanntlich nicht Frau v. Stein, sondern Anna Amalia nach der Regierungsübergabe ihren künftigen Sommersitz vorbereitete. Zu ihm wäre Goethe gewiß nicht gewandert, um diese herzbewegende Liebesklage Frau v. Stein zu widmen.
Bis zum 14. April d.J. muß sich etwas Entscheidendes – man darf nun sagen: zwischen den Liebenden – ereignet haben. An diesem Tage verfasste er das Gedicht, das mit den Zeilen beginnt:
Warum gabst du uns die Tiefen Blicke
Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun
Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke
Wähnend selig nimmer hinzutraun?
Es ist von tiefem Einverständnis die Rede: „Sag wie band es uns so rein genau?“ Es ist das für tiefe Verliebtheit charakteristische Gefühl vollkommenen Verstandenseins und Verstehens, das eine mystische Übereinstimmung erleben lässt, die unerklärlich scheint und deshalb einer mystischen Erklärung bedarf: „Ach du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau“. Solch tiefe Liebesgefühle haben eine physische Entsprechung: „Welche Seligkeit glich jeden Wonnestunden, / Da er dankbar dir zu Füßen lag“. Aber dieser Liebe drohen Grenzen: „Nur uns Armen liebevollen beiden / Ist das wechselseitge Glück versagt …“, und es gibt Begrenzungsbemühungen: „Tropftest Mäßigung dem heißen Blute, / Richtetest den wilden irren Lauf, / Und in deinen Engelsarmen ruhte / Die zerstörte Brust sich wieder auf, / Hieltest zauberleicht ihn angebunden …“. Es ist eine Liebende, die nicht den Kopf verliert, nicht verlieren darf, aber den ungestümen Geliebten liebevoll hält. Denn es gibt ernste Hindernisse: „Nur noch um das ungewisse Herz / Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern, / Und der neue Zustand wird ihm Schmerz“. Das setzt sich in einem kleinen Vers vom 29. Juni 1776 fort:
Hier bildend nach der reinen stillen
Natur, ist ach mein Herz der alten Schmerzen voll
Leb ich doch stets um derentwillen
Um derentwillen ich nicht leben soll.
Im Juli schreibt der Dichter „Und ich geh meinen alten Gang … Leb in Liebes Klarheit und Kraft…“. Zweifel und Zuversicht wechseln sich ab. Am 21. Juli überreicht er Blumen, die zwischen Felsen wachsen, also unter erschwerten Bedingungen gedeihen. Die Gefährdung drückt sich wie die Zuversicht in den Zeilen aus:
Verwelkliche Zeichen
Der ewigen Liebe zu dir.
An diese Liebe darf er inzwischen glauben. Am 22. Juli überlebt die Liebe zwischen den Felsen trotz der unüberwindlichen Kondition:
Ach, so drückt mein Schicksal mich
Daß ich nach dem unmöglichen strebe.
Lieber Engel für den ich nicht lebe
Zwischen den Gebürgen leb ich für dich.
Den Zweifel, ob die Beziehung der Wirklichkeit standhalten kann, behält der Dichter, aber die Pflanze zwischen den Felsen verdorrt nicht. So schreibt er am 8. August:
Ach wie bist du mir,
Wie bin ich dir geblieben!
Nein an der Wahrheit
Verzweifl ich nicht mehr.
Ach, wenn du da bist
Fühl ich, ich soll dich nicht lieben
Ach wenn du fern bist
Fühl ich, ich lieb dich so sehr.
Der offensichtlich erwiderten Liebe steht ein scheinbar unüberwindbares Hindernis entgegen, das in den folgenden Gedichten wiederkehrt und gegen das ihn die Liebe schützt. Am 16. Oktober 1776 in Dornburg schützt ihn die Liebe in der Heimatlosigkeit, die er fühlt, weil die Umstände seiner tiefen Liebe kein Haus bauen können:
Ich bin eben nirgend geborgen
Fern an die holde Saale hier
Verfolgen mich manche Sorgen
Und meine Liebe zu dir.
Inzwischen sind acht Monate seit „Wanderers Nachtlied“ und sechs Monate seit den „Tiefen Blicken“ vorübergegangen, in denen die Liebenden sich, nicht ohne Schmerzen, erkannt und verbunden haben. Die Liebe hat sich inzwischen erhalten, bestätigt, und sie scheint an den nicht genannten unüberwindlichen Schwierigkeiten nicht zu scheitern, aber offenbar zeichnet sich keine Lösung ab, wie der Liebe Genüge getan werden kann.
Eine vorübergehende Entlastung durch Kompensation könnte die Intensivierung der leidenschaftlichen körperlichen Liebe sein. In dem Gedicht „An den Geist des Johannes Sekundus“ gelingt dies auch. Es ist die Rede „von der Liebe süßtem Glück“, davon, daß die „Holde“ „in voller ringsumfangender Liebe, / Mehr mögt haben von mir, und mögte mich Ganzen / Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte!“ Und obwohl „Meine Lippe, die so viel gewohnt ist / Von der Liebe süßtem Glück zu schwellen / Und, wie eine goldne Himmelspforte, / Lallende Seligkeit aus und einzustammeln. / Gesprungen ist …“, entstand die schmerzhaft gesprungene Lippe aus der Wirkung des Herbstwindes, aber nur „von der Liebe alles heilenden / Gift Balsam“ könnte sie genesen. Das Gedicht ist der Ausdruck ungehemmter körperlicher leidenschaftlicher Liebe, wie sie kein Mann je von und mit Charlotte v. Stein hätte haben können, aber in die Leidenschaft mischt sich sozusagen ein poetischer Wermutstropfen, das schmerzende Vollzugsorgan der Liebe. Als Psychoanalytiker darf man die Vermutung äußern, dass das Bild von der in der Liebe schwellenden Lippe eine Verschiebung von unten nach oben ist, aber auch so galt das sehr intime Gedicht nicht als „ostensibel“ (1), denn zu Herder gelangte es schon in einer um einige Verse gekürzten Version, und Goethe hat daraus zur Veröffentlichung später ein anderes Gedicht gemacht. An die Stelle des Johannes sekundus, des Künstlernamens eines neulateinischen Dichters (Nicolai Everaerts, 1511 – 1536), der einen Gedichtzyklus „Basia“ (Küsse) verfasst hatte, nannte Goethe die Umformulierung später „Liebesbedürfnis“ (1, S. 963).
Leidenschaftliche Erotik kann vieles, aber nicht die unüberwindlichen Hindernisse, die in der sozialen Welt zu suchen sind, auflösen, auch wenn sie in den Gedichten bis hierhin nicht genannt werden. Einen Hinweis auf die gewählte Lösung mag das Gedicht „An den Mond“ geben, in dem der Nebelglanz des Mondes die Seele des Dichters löst. Die Seligkeit, einen Mann am Busen zu halten und mit dem genießen,
Was den Menschen unbewußt
oder wohl veracht
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht
ist zwar ein Rätsel, aber das soll es, so die Botschaft des Gedichtes, auch bleiben.
Ein Weg sublimierter Liebesbezeugung ist zwar die Kunst, mit der Goethe seine Geliebte erfreut und auch bindet, z. B. mit dem Gedicht vom 19. April 1779, das mit den Worten beginnt: „Deine Grüße hab´ ich wohl erhalten“, dessen Witz aber darin besteht, dass er ein Wort-Akrostichon ist: wenn man die ersten Zeilenworte nacheinander liest, entsteht der Satz: „Deine Liebe gibt jeden Tag mir neues Leben, bleib Engel immer so“ (1, S. 968). Die – vorläufige – Lösung des unlösbaren Problems bieten schließlich die nächtliche Liebesbeziehung und die fortgesetzte Geheimhaltung.
Um Mitternacht
Wenn die Menschen erst schlafen
Dann scheinet uns der Mond
Dann leuchtet uns der Stern,
Wir wandlen und singen
Und tanzen erst gern.
Um Mitternacht
Wenn die Menschen erst schlafen
Auf Wiesen an den Erlen
Wir suchen unsern Raum
Und wandlen und singen
Und tanzen einen Traum.
Sie bestätigt sich in dem Gedicht „Nachtgedanken“ vom 20. September 1781:
Euch bedaur ich unglückselge Sterne
Die ihr schön seid und so herrlich scheinet,
Dem bedrängten Schiffer gerne leuchtet,
Unbelohnt von Göttern oder Menschen
Denn ihr liebt nicht, kanntest nie die Liebe.
Unaufhaltsam führen ewge Stunden
Eure Reihen durch den weiten Himmel,
Welche Reise habt ihr schon vollendet!
Seit ich bleibend in dem Arm der Liebsten
Eurer und der Mitternacht vergessen?
Wilhelm Solms (6) hat darauf hingewiesen, dass die namentliche Anrede (Psyche, Lotte, Lida, Lydia) erst seit 1781 in den Gedichten vorkommt. Das ist vermutlich kein Zufall, denn es ist auch die Zeit, wo sich in den Gedichten eine konsolidierte, sichere Liebesbeziehung darstellt. Die Namen, insbesondere „Lida“, der Name, welcher der gesamten Liebesdichtung der ersten zehn Weimarer Jahre als Gattungsbezeichnung gegeben wurde, sind ein Symbol dieser Beziehung. Die Liebesbeziehung ist so stabil und sicher, dass sie nun einen Namen bekommen kann, allerdings einen Geheimnamen oder gar, der Öffentlichkeitsstrategie des geheimen Paares entsprechend einen, der auf die falsche Fährte führt („Lotte“).
Die ersten beiden Gedichte, die den Namen „Lida“ enthalten, sind „Der Becher“ (1. Oktober 1781) und „An Lida“ (erste Version 9. Oktober 1781) noch mit dem Namen „Lotte“, der im Entwurf von 1788 durch „Psyche“, 1789 in den Schriften unter „Vermischte Gedichte“ durch „Lida“ ersetzt wurde. Die Reihenfolge der Namensgebung bezeichnet eine Entwicklung, in der einfachen Camouflage („Lotte“), mit der vorgegeben werden soll, es handle sich um Charlotte v. Stein (ein „verwünschter Nahme“, Brief vom 1. Januar 1780 an „Charlotte v. Stein“ (3), ein „ominöser“ Name, Brief vom 4. Juli 1779 (3), wie Goethe in Briefen an „Frau v. Stein“ geschrieben hatte (3; 6) – einer der Belege dafür, dass die Empfängerin nicht Charlotte v. Stein gewesen sein kann – über „Psyche“, die, wie Goethe mit seiner Geliebten, mit Amor eine Nachtbeziehung hatte, zu „Lida“, mit der die Geliebte ihren eigenen Namen, allerdings einen kryptischen bekommt.
Zum ersten Mal geschieht dies in „Der Becher“ (1. Oktober 1781).
Der Becher
Einen wohlgeschnitzten vollen Becher
Hielt ich drückend in den beiden Händen,
Sog begierig süßen Wein vom Rande,
Gram und Sorg´ auf Einmal zu vertrinken.
Amor trat herein und fand mich sitzen,
Und er lächelte bescheidenweise,
Als den Unverständigen bedauernd.
„Freund, ich kenn´ ein schöneres Gefäße,
Wert die ganze Seele drein zu senken;
Was gelobst du, wenn ich dir es gönne,
Es mit anderm Nektar dir erfülle?
O wie freundlich hat er Wort gehalten,
Da er, Lida, dich mit sanfter Neigung
Mir, dem lange sehnenden, geeignet!
Wenn ich deinen lieben Leib umfasse,
Und von Deinen einzig treuen Lippen
Langbewahrter Liebe Balsam koste,
Selig sprech´ ich dann zu meinem Geiste:
Nein, ein solch Gefäß hat außer Amorn
Nie ein Gott gebildet noch besessen!
Solche Formen treibet nicht Vulcanus
Mit den sinnbegabten, feinen Hämmern!
Auf belaubten Hügeln mag Lyäus
Durch die ältste, klügste seiner Faunen
Ausgesuchte Trauben keltern lassen,
Selbst geheimnisvoller Gärung vorstehn:
Solchen Trank verschafft ihm keine Sorgfalt!
Hier wird, in mythologischen Bildern, eine Liebesbeziehung zu einer realen Geliebten erzählt, um die der Dichter lange werben musste, und mit der er eine „langbewahrte“ glückliche Liebesbeziehung hat. Von schmerzhaft aufgesprungenen Lippen ist nicht mehr die Rede, und die Geliebte hat nun ihren eigenen Namen, den noch niemand hatte, und der nur den beiden Liebenden kein Geheimnis ist. Wie wunderbar diese Geliebte ist, bezeugt, dass weder die Schmiedekünste des Vulcanus noch die Kelterkünste des Dionysos einen solch köstlichen Leib formen könnten. Nur Amor kann es. Die wunderbare Lida ist ein göttliches Produkt, göttlichen Ursprungs, wiewohl Objekt höchster irdischer Lust.
Man mag sich wundern, was Goetheforscher gelesen haben, die eine rein geistig-sublimierte Beziehung Goethes zu Frau v. Stein für real und möglich hielten.
Acht Tage später (9. Oktober 1781) entsteht das zweite der Liebesgedichte mit der Namenspatronin, das aber erst nach zwei Metamorphosen seinen Namen erhält.
An Lida
Den einzigen, Lida, welchen du lieben kannst,
Forderst du ganz für dich und mit Recht.
Auch er ist einzig dein.
Denn, seit ich von dir bin,
Scheint mir des schnellsten Lebens
Lärmende Bewegung
Nur ein leichter Flor, durch den ich deine Gestalt
Immerfort wie in Wolken erblicke:
Sie leuchtet mir freundlich und treu,
Wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen
Ewige Sterne schimmern.
Das Gedicht ist die Fortsetzung des vorigen: nicht nur die erotische Faszination, die in der leiblichen Nähe der Geliebten göttlichen Rang gibt, beschreibt die Bedeutung Lidas für den Dichter. Im Vertrag der Einzigkeit konstituieren sich identifikatorische Prozesse und Objektkonstanz, Vertrauen, das Sicherheit gibt und in der Identifikation mit der geliebten Person als sichernde, schützende Konstante wie ein Leitstern in den Wechselfällen wirkt. Wir sind „verheurathet“, wird Goethe an anderer Stelle sagen (Brief an „Frau v. Stein“ vom 8. Juli 1781 (3)), und was das meint, beschreibt er im Bild der ewigen Sterne, dem Symbol der Sicherheit, Berechenbarkeit und Konstanz.
In dem Gedicht „Für ewig“ vom 24. Juli 1784 gibt er dem schönsten poetischen Ausdruck:
Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken
Von hohem Glück mit Götternamen nennt,
Die Harmonie der Treue, die kein Wanken,
Der Freundschaft, die nicht einen Zweifel kennt,
Das Licht das Weisen nur zu einsamen Gedanken
Das Dichtern nur zu schönen Bildern brennt
Das hatt ich all in meinen besten Stunden
In ihr entdeckt und es für mich gefunden.
Mit diesen Gedichten stellt sich die Beziehung auf ihrem Höhepunkt dar. Es ist eine seelische Verbundenheit und Sicherheit, aber auch eine starke erotische Anziehung, die in den Gedichten dieses Jahres zum Ausdruck kommen. Die größten Anfechtungen scheinen überwunden. Eifersucht hatte zeitweilig die Beziehung getrübt (vgl. 3, S. 174f). Am 13. Mai 1779 hatte Goethe damit zu kämpfen:
Man wills den Damen übel deuten
Daß sie wohl zu gewissen Zeiten
Ihr Herz mit mehrern teilen können!
Doch dich kann man gar glücklich nennen
O du des Hofes Zierd und Ehre
Du schonst gar weislich deins
Und hast gelegentlich für jeden eins
Und wenns auch nur von Mehl und Farben wäre.
Hier rettet er sich und seine Liebe aus der fressenden Eifersucht mit Humor.
Am 9. Dezember 1780 gelingt ihm ein versöhnlicher Wunsch:
Zum Tanze schick ich dir den Strauß
Mit himmelfarbnem Band,
Und siehst Du andern freundlich aus,
Reichst andren deine Hand,
So denk auch an ein einsam Haus
Und an ein schöner Band.
In einem Gedicht vom September 1782 wird aus der Gefährdung der Beziehung durch Eifersucht die Gefährdung durch seine eigenen Impulse, verbunden mit dem Appell, ihn und ihre Liebe durch ihre Gegenwart und ihre Liebeszeichen zu schützen.
Von mehr als einer Seite verwaist,
Klag ich um deinen Abschied hier
Nicht allein meine Liebe verreist
Meine Tugend verreist mit dir
Denn ach bald wird in dumpfes Unbehagen
Die schönste Stimmung umgewandt,
Die Leidenschaft heißt mich an frischen Tagen
Nach dem und jenem Gute jagen,
Und denk ich es recht sicher heim zu tragen,
Spielt mir´s der Leichtsinn aus der Hand.
Bald reizt mich die Gefahr ein Abenteur zu wagen,
Ich stürze mich hinein und halte mutig Stand,
Doch seitwärts fährt die Lust auf ihrem Taubenwagen,
Die Luft wird balsamweich mein Herz gerät in Brand;
Mein Schutzgeist eil es ihr zu sagen
Durchstreiche schnell das ferne Land.
Sie soll nicht schelten soll den Freund beklagen.
Und bitte sie zu Lindrung meiner Plagen
Um das geheimnisvolle Band.
Sie trägts und oft hat mir´s ihr Blick versprochen pp.
Es ist das Spiegelbild der Eifersuchtsgedichte: nicht nur er ist eifersüchtig, wenn sie abwesend ist, auch sie hat sich vor Eifersucht zu schützen, weil er das Verlassensein nicht gut aushält und sich vor ihr dadurch schützt, dass er seinen Impulsen nachgibt. Die aber gefährdeten ihre gemeinsame Liebe. Deshalb bedarf er mindestens eines symbolischen Zeichens der Verbundenheit. Der Taubenwagen war ein aus der Antike bekanntes und noch bis ins 19. Jahrhundert geläufiges Attribut der Venus. Die Tauben waren wegen ihres Schnäbelns die Vögel der Venus. Sie zogen den Wagen, auf dem Venus saß. In dem Gedicht könnte das mythologische Bild eine verborgene Nebenbedeutung haben, nämlich für den Austausch geheimer Botschaften mit Brieftauben. Ein zentrales Problem hat Goethe wiederholt in seinen Gedichten benannt: die ungleiche Geburt des Paares. In dem Gedicht „Ferne“ vom 12. April 1782 heißt es:
Königen sagt man hat die Natur vor andern Geborenen,
Zu das Reiches Heil längere Arme verliehn.
Doch auch mir geringen gab sie das fürstliche Vorrecht,
Denn ich fasse von fern und halte dich Psyche mir fest.
In einer Fassung von 1788 lautet die letzte Zeile: „Denn ich fasse von fern, halte Dich, Lida, mir fest“. In dem Gedicht „Ungleiche Heirat“ (1780?) beschäftigt sich Goethe mit Amor und Psyche, die nur in stockdunkler Nacht zusammen sein können.
Selbst das himmlische Paar fand doch sich ungleich zusammen,
Psyche ward älter und klug, Amor bleibt immer ein Kind.
Es ist ein Gedicht der mehrfachen Verweise: das ungleiche Paar, die ältere und reifere Psyche, die Beziehung, die an die Nacht gebunden ist, die Gefährdung dieser Konstellation: die Schwestern der Psyche verleiteten diese, ihren Gatten bei Lichte zu betrachten. Dadurch verlor sie ihn. Goethe, dessen Genie die poetische Äußerung war, die, wie er selbst sagte, von ihm handelte, der aber gleichzeitig seine Nachtbeziehung geheim halten musste, hat dies in dem berühmten, am 25. Juni 1784 in Eisenach verfassten Vers zum Ausdruck gebracht:
Was ich leugnend gestehe und offenbarend verberge
Ist mir das einzige Wohl, bleibt mir ein reichlicher Schatz
Ich vertrau es dem Felsen damit der Einsame rate
Was in der Einsamkeit mich was in der Welt mich beglückt.
Mit dem Jahr 1784 endet vorläufig die Ära der Lida-Gedichte. Den Grund kennen wir nicht. Es könnten Briefe mit ihren Gedichten verloren gegangen sein, es könnte im Medium der Gedichte alles gesagt gewesen sein, die unauflösbare Problematik der geheimen Beziehung könnte auf diese ihren Schatten gelegt haben. Spätere poetische Zeugnisse gibt es indessen. Drei davon sollen hier abschließend genannt werden.
Das 96. der venezianischen Epigramme (1791) lautet:
Glänzen sah ich das Meer und blinken die liebliche Welle,
Frisch mit günstigem Wind zogen die Segel dahin.
Keine Sehnsucht fühlte mein Herz, es wendet mein Auge
Nach dem Schnee des Gebirgs, rückwärts, den schmachtenden Blick.
Welche Schätze liegen mir südwärts, doch einer im Norden
Zieht, ein großer Magnet, unwiderstehlich zurück.
Das 7. venezianische Epigramm lautet:
Eine Liebe hatt´ ich, sie war mir lieber als alles,
Aber ich hab´ sie nicht mehr! Schweig, und ertrag den Verlust.
Die venezianischen Epigramme entstanden, als Goethe in Venedig vom 31. März bis 6. Mai 1790 auf Anna Amalia wartete, um sie nach Weimar zu begleiten. Er übergibt sie ihr nach ihrer Ankunft. 1820 erfährt Lida ihre Apotheose:
Zwischen beiden Welten
Einer Einzigen angehören,
Einen Einzigen verehren
Wie vereint es Herz und Sinn!
Lida! Glück der Nähe,
William! Stern der schönsten Höhe,
Euch verdank´ ich was ich bin.
Tag´ und Jahre sind verschwunden,
Und doch ruht auf jenen Stunden
Meines Wertes Vollgewinn.
Literatur
1. Eibl, Karl (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Band
1.Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1998
2. Eibl, Karl (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Band
2.Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1998
3. Ghibellino, Ettore: Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe? 3. Aufl.
Dr. A.J. Denkena, Weimar 2007
4. Ghibellino, Ettore: Wie läßt sich die Empfängerin von Goethes Liebesbriefen
bestimmen? In: Nagelschmidt, Ilse, Weiß, Stefan, Trilse-Finkelstein,
Jochanan (Hrsg.): Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt. 2. Interdisziplinäres
Symposion 2009, S. 131-150, Dr. A. J. Denkena, Weimar 2012
5. Goethe, Johann Wolfgang v.: Werke. Hamburger Ausgabe, Geschichte und
Epen I. Band 1. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000
6. Solms, Wilhelm: Das Bild der Geliebten in Goethes Versen an Lida.
Festvortrag anläßlich von Goethes Geburtstag am 28. August 2012 in
Weimar. Dr. A. J. Denkena, Weimar 2012
7. Speidel, Hubert: Ist Eisslers „Goethe“ Goethe? In: Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.):
Alles um Liebe, S. 19-43. Dr. A. J. Denkena, Weimar 2008
8. Speidel, Hubert: Auf dem Weg zu einem Psychogramm der Empfängerin von
Goethes Liebesbriefen. In: Nagelschmidt, Ilse, Weiß, Stefan, Trilse-
Finkelstein (Hrsg.): Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt. Anna Amalia und
Goethe, S. 151-184. Dr. A. J. Denkena, Weimar 2010